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„Sunny“ am Staatsballett BerlinEvergreen statt Vision

Das Staatsballett Berlin mausert sich weiter, diesmal mit dem Evergreen „Sunny“. Aber jetzt wäre langsam mal eine Vision an der Reihe.

Gute Improvisationstools: die Tänzer*innen im Stück „Sunny“ Foto: Jubal Battisti

Berlin taz | Das Knifflige am „Prinzip Hoffnung“ sind die Übertragungsmechanismen. Was die einen glücklich macht, lässt andere kalt, ein alles veränderndes Lächeln lässt sich nicht so einfach mit demselben Effekt reproduzieren, und soziale Utopien führen nicht unbedingt zu einem allgemeinen Hemdsärmelhochkrempeln, sondern oftmals eher zu Waffenrasseln. Was sich aber teilen lässt, ist das Gefühl Hoffnung. Wenn plötzlich durch irgendwas die eigene Neurochemie umprogrammiert wurde und wieder Horizont auftaucht.

Dieses Gefühl in einen Song gegossen ist Bobby Hebbs „Sunny“, das der US-amerikanische Musiker 1963 in Erinnerung an den Tod seines Bruders, der einen Tag nach der Ermordung John F. Kennedys vor einem Club niedergestochen wurde, schrieb. „Sunny“ ist eine Hymne an Transmitterstoffe, an die Hoffnung, an das Berührtwerden, ein Dankgesang an die Liebe. Und eine Metapher: Die Sonne des Songs ist weniger die über Copacabana als eine Ahnung des Lichts Gottes, von Bobby Hebbs Gott über Manhattan.

Der im südfranzösischen Istres arbeitende israelische Choreograf Emanuel Gat hat aus diesem Song und den mehr als 2.000 Coverversionen zusammen mit dem Singer-Songwriter Awir Leon, einem früheren Tänzer seiner Kompanie, 2016 eine Art Tanzteppich gewebt. Den hat er nun nach Berlin verkauft. Der gute Gott von Manhattan ist hier ein Bär, der wie ein Totem kurz vor dem künstlichen Morgenrot die Bühne vom Göttereingang in der hinteren Bühnenmitte beschreitet.

Seine Eingeweide quellen ihm in Form von purpur glänzenden Stoffen heraus, eine geheimnisvolle Kraft geht von ihm aus, an der sich die zur niedrigstehenden Morgensonne gruppierten Tänzer*innen ausrichten. Mit zunehmendem Licht zersprenkeln sie sich über die Bühnenfläche, das Bärenkostüm hängt nun als Reliquie an der Wand.

Angepeitscht durch Club-Beats

Dazu zerklüftet Awir Leon die Strophen- und musikalische Reimstruktur, fragmentiert die Soulkonven­tionen der 60er und verwandelt sie in eine Ambient-Elektro-Landschaft, die sich kontemplativ unter einem Hitzetag dahinräkelt und nur an einer Stelle, wenn die Tänzer*innen in bunten Burlesque-Kostümen auf die Bühne wehen, durch Club-Beats angepeitscht wird. Jenseits dieses karnevalesken Ausbruchs, der vor allem ein Zugeständnis an den Kostümbildner zu sein scheint, sind sowohl die musikalischen als auch die tänzerischen Figuren sparsam gesetzt.

Emanuel Gat gestaltet Choreografie aus Setzungen, die live variiert werden

Bei Gats eigener Kompanie, die mit „Sunny“ weltweit tourt, entsteht dadurch ein postmodern anmutendes Strukturgewebe, das einen abgeklärt und schwerelos wirkenden tänzerischen Freejazz-Style ermöglicht. Gats Prinzip, Choreografie aus Setzungen, die live variiert werden, zu gestalten, findet in dem Stück zu sich selbst. In die Sequenzen, in denen die Tänzer*innen sich gegenseitig zuschauen, um das Bewegungsmuster weiterzuweben, lässt sich mit einsteigen – in den besten Momenten kann das Publikum wie hellsichtig die nächste tänzerische Geste erahnen.

Dieser Effekt tritt bei der Premiere von „Sunny“ in einer von Gat selbst einstudierten Coverversion des Staatsballetts Berlin an der Berliner Volksbühne weniger auf. Was normal ist. Improvisationsbasierte Stücke entfalten sich oft erst nach dem Premierendruck. Andererseits stellt sich aber bei dem einstündigen Versuch auch die Frage, was die Staats­ballett-Tänzer*innen in pastellfarbener, genderspezifischer Unterwäsche, die hier nach der Stärke ihrer nicht unbedingt ballettösen Oberbeinmuskeln ausgewählt scheinen, überhaupt mit ihrer Coverversion wollen.

Offen für moderne Tanzsprachen

Die neue Staatsballettleitung Johannes Öhman (seit 2018) und Sasha Waltz (seit 2019) hat es seit ihrem Antritt verstanden, das Prinzip Hoffnung zu vermarkten. Aus einem Staatsballett, das der strengen russischen Schule nachtrauerte, formen sie, unter dem Applaus der fast schon chauvinistisch händchenhaltenden Presse, ein für moderne Tanzsprachen offenes, vielseitig versiertes Ensemble skandinavischen Stils.

Aber ob man für die Transformation nun eine Einkaufsliste international gängiger Namen abarbeiten muss, die ihre Best-offs wie im Fall von Jefta van Dinther oder Emanuel Gat schon beim Berliner Festival Tanz im August gezeigt haben, das wird an diesem Punkt die Frage.

Gute Improvisationstools im Angebot haben auch Künstler*innen der internationalen Berliner Tanzszene, für die die Fördergelder aus Stadt und Land längst nicht mehr ausreichen und die froh über finanziell gut ausgestattete Angebote sein dürften. „Sunny“ scheint ein etwas lethargisch-weltfremder Versuch einer Self­-ful­fil­ling Pro­phe­cy, die Gefahr läuft, sich selbst relativ schnell zu erschöpfen. Zeit für eine wirklich sonnige Perspektive mit Ikaruswahn oder zumindest unerwarteten Fall­höhen.

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