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Yalla, Widerspenstige

Es gibt einen Trend im Sachbuch-Segment zum Autobiografisch-Identitätspolitischen. Ein kleiner Überblick

Women’s March in den USA. Die Akteure und die Anliegen sind divers Foto: Ira L. Black/Corbis/getty images

Von Miryam Schellbach

Als im Sommer 2016 ­Didier Eribons intime Klassenreflexionen unter dem Titel „Rückkehr nach Reims“ auf Deutsch erschienen, kam das für zahlreiche Rezensenten einer Einladung gleich, den eigenen Klassenhintergrund oder -aufstieg zu durchdenken und zum Gegenstand des öffentlichen Interesses zu erklären. Dies mündete schnell in einige thematisch ähnliche, zumeist autobiografische Publikationen mit soziologischem Vokabular, die den Begriff der Klasse neu belebten. Dass die neue Popularität gesellschaftskritischer Sachbücher für ein breites Publikum nicht unweigerlich zu einer neuen Agenda auf politischer Ebene führt, ist die eine Beobachtung.

Kwame Anthony Appiah: „Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit“. Aus d. Engl. v. M. Bischoff. Hanser, Berlin 2019, 336 Seiten, 24 Euro

Die andere ist, dass sich heute, drei Jahre später, von einem autobiografisch-identitätspolitischen Trend im Sachbuch-Segment sprechen lässt, einer Art verspätetem Eribon-Effekt. Wurde diese Tür mit der lange tabuisierten Frage nach Persistenz und Realität gesellschaftlicher Klassen aufgestoßen, so rücken in diesem Herbst weitere Subjektkategorien in den Blick.

Identität ist der Ober- und Reizbegriff, unter dem sich diese Kategorien subsumieren lassen, die politische Diskussionen bestimmen oder sprengen und an deren Rändern einerseits Privilegien, andererseits Ausgrenzung und Ausschlüsse stehen: Klasse, aber auch Herkunft, Kultur, Hautfarbe oder der Glaube zählen dazu.

Der an der New York University lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah zeigt in seinem gerade übersetzten Buch „Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit“ in einer weniger soziologischen als grundbegrifflichen Analyse und hilfreichen Sortierung, wie fluide und ungenau diese Kategorien werden, sollen sie auf Individuen scharfgestellt werden. Angesichts einer Kindheit auf mehreren Kontinenten sowie einer beruflichen Professionalisierung an diversen europäischen und amerikanischen Universitäten scheint ihm die Frage nach seinen Wurzeln wie das Relikt aus einer anderen Zeit.

Spürbar ist auch das neu erwachteInteresse an der jungen Generation

Eine Erfahrung, die er zum Anlass nimmt, den eurozentrisch verengten Blick der Kontinentalphilosophie zu erweitern. Er zeigt, dass Subjekte in manchen afrikanischen und asiatischen Kulturen längst als mobile und komplexe Nichteinheiten denkbar sind: Identitäten, die „sich entfalten wie eine Ziehharmonika mit ihren zahlreichen Spalten und Fältelungen“. Dass kategorielle Unterscheidungen dennoch unverzichtbar dafür sind, die Gesellschaft zu ordnen, soziale Kämpfe zu führen und so „unserer Freiheit schärfere Konturen“ zu verleihen, ist eine der überraschenden Schlussfolgerungen in diesem gelehrten und im Ton sympathisch-unterhaltsamen Buch. Kontrovers ist Appiahs harter Schlag gegen das Konzept der kulturellen Aneignung. Wenn alle kulturellen Praktiken und Objekte fluide sind, kann niemand ihren Besitz für sich reklamieren, ohne dabei dem „modernen Eigentumsregime“ anheimzufallen.

Eine intersektionale Verbindung von Alter und Herkunft betrachtet Johannes Nichelmann in „Nachwendekinder“, bei denen er anhand im Buch nacherzählter Interviews ein frappierendes Erinnerungsdefizit bemerkt, das die Frage aufwirft „warum wir Nachwendekinder zu wenig, bis gar nicht mit unseren Eltern über ihr Leben in der DDR sprechen“. Nichelmann rückt eine Nahtstelle in den Fokus, an der sich die Verletzlichkeit zeigt, die einer Transformationsgesellschaft auch über den Systemumbruch hinweg eigen ist. Die Nachgeborenen beurteilen ihre Eltern und deren vermeintliche Konformität anhand eines Wertesystems, das selbst erst aus der transformierten Gesellschaft hervorging. Die Eltern wiederum finden keine Sprache für ihre ambivalenten Erinnerungen.

Johannes Nichelmann: „Nachwendekinder“. Ullstein Verlag, Berlin 2019, 272 Seiten, 20 Euro

Spürbar ist auch das neu erwachte Interesse an der jungen Generation. Mit dem Klimaprotest und Greta Thunberg trat sie selbstbewusst auf die Bühne der politischen Akteure, die, so beschreibt es Mareike Nieberding in ihrer Streitschrift „Verwende deine Jugend“, richtiggehend „jugendverdrossen“ ist. Die Parteien verlieren ihren Nachwuchs, Parteizugehörigkeit wird längst nicht mehr vererbt, und junge Politiker stecken entweder in den Jugendorganisationen fest oder kämpfen mit Legitimationsproblemen. Empört über die Hindernisse, die jungen Erwachsenen mit Wunsch nach gesellschaftlicher Partizipation in den Weg gestellt werden, ruft Nieberding mit einem kreativen Forderungskatalog die Politik dazu auf, die junge Generation ernst zu nehmen.

Wie es sich liest und anhört, wenn Empörung, unbedingter Wille zu gesellschaftlicher Partizipation und die Aneignung negativer Zuschreibungen aufeinandertreffen, lässt sich bei Lady Bitch Ray nachvollziehen. Die Kunstfigur ist eine personifizierte An- und auch Enteignung intersektional ineinandergreifender stereotyper Aussagen über das Arbeiterkind mit türkischem Background, die Muslimin, die Alevitin, die Feministin, die Porn-Rapperin. Gezielt gesetzte Personenzentrierung mit Street Credibility fährt ihr gerade veröffentlichtes Manifest der Selbstermächtigung, „Yalla, Feminismus“, auf.

Mareike Nieberding: „Verwende deine Jugend. Ein politischer Aufruf“. Tropen Verlag, Stuttgart 2019, 108 Seiten, 12 Euro

Das Buch ist eine an Vagina-Neologismen erinnernde wortgewaltige feministische Sezierung des Deutsch-Rap, des Islam sowie des Wissenschafts- und Universitätsbetriebs, den Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin „Fuckademia“ nennt. Şahins große Geste und ihr hehres Anliegen sind sympathisch, funktionieren aber nur dann, wenn einen die enorme Ladung Egozentrismus, die sie als rhetorisches Element aus dem Rap übernimmt, nicht von den im Schatten der porno-sprachlichen Muskelschau stehenden Feinanalysen ablenkt.

Reyhan Sahin: „Yalla, Feminismus“. Tropen Verlag, Stuttgart 2019, 224 Seiten, 20 Euro

Lässt man sich darauf ein, bergen ihre Gedanken eine kluge Semiotik des Kopftuchs (Şahin ist nebenbei auch promovierte Linguistin) genauso wie eine unterhaltsame Einführung in die Geschichte des Deutsch-Rap. Das widerspenstige Ich, das der Kollektivzuschreibung immer wieder von der Schippe springt, ist Lady Bitch Rays Programm.

Das Anliegen, zu zeigen, dass Identitäten stets zwischen Zugehörigen und Außenstehenden verhandelt werden, durchzieht alle diese neuen Kartografierungen des Identitätskontinents unserer Gesellschaften. Manche beschreiben explizit, andere lassen es beiläufig anklingen, welch enorme Anstrengung dahintersteht, in einer von Abwertung und Hierarchisierung geprägten Gemeinschaft kollektive Festschreibungen mit dem eigenen Ich abzugleichen. Unter welchen Bedingungen es sogar gelingen kann, spielerisch-subversiv mit ihnen umzugehen oder sich über sie zu er­heben, bleibt eine offene Frage.

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