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Chronist schicksalhafter Verbindungen

In all seinen Büchern sind die Leute unterwegs. Auch Andrei Platonow selbst, der das Dorf verstand, indem er an seiner Entwicklungaktiv teilnahm. In seinem Werk hat er die Tragödie der Sowjetunion genauso vorausgesehen wie drohende ökologische Probleme

Von Helmut Höge

Die Erzählung „Dshan“ von Andrei Platonow handelt von einem kleinen verlorenen Wüstenvolk, das schicksalhaft mit einer Herde verwilderter Schafe verbunden ist. „Die erste sozialistische Tragödie“ hat Platonow sie genannt. Der zu Sowjetzeiten verfemte Autor gilt heute als der größte und vor allem sowjetischste aller sowjetischen Schriftsteller. Auf Deutsch erschienen die meisten seiner Werke erst Ende der achtziger Jahre, viele im Verlag Volk und Welt, als es die DDR schon fast nicht mehr gab. Inzwischen wird zum Beispiel sein surrealistischer Aufbauroman „Die Baugrube“ bereits auf deutschen Bühnen aufgeführt.

In der Anfangszeit der Kollektivierung „vergesellschaftete“ man hier und da im Übereifer sogar das Geflügel. Stalin schrieb Anfang 1930 seinen berühmten Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“. Andrei Platonow begab sich nach Erscheinen dieses Artikels – im Auftrag der Zeitschrift Krasnaja now (Rote Neuigkeit) – sofort in sein Heimatgebiet Woronesch, wo er sich zuvor als Ingenieur an der Melioration und Elektrifizierung beteiligt hatte, um diese von Stalin proklamierte Wende in der Kollektivierungspolitik von unten mitzubekommen. Seine währenddessen entstandene „Armeleutechronik ‚Zu Nutz und Frommen‘“ wurde zwar 1931 gedruckt, aber Stalin schrieb eigenhändig „Schweinehund“ auf die Ausgabe. In all seinen Büchern sind die Leute unterwegs, in der „Chronik“ ist es Platonow selbst, ein „Pilger durchs Kolchosland“ – der das Dorf verstand, wie Viktor Schklowski 1926 fand, indem er aktiv an seiner Entwicklung teilnahm, denn „wertvolle Beobachtungen entspringen nur dem Gefühl emsiger Mitarbeit“. Diese Überzeugung teilte Platonow mit Sergei Tretjakow, der meinte, „der Schriftsteller muss in Arbeitskontakt mit der Wirklichkeit treten“.

Zum Verständnis der Werke von Platonow waren die Nachworte der DDR-Platonow-Expertin Lola Debüser hilfreich. Inzwischen gibt es viele Platonow-Fans und -Experten. In konkret erschien kürzlich ein Artikel von Peter Sigloch, in dem es hieß: „Wie die ‚einfachen‘ Leute damals die Umwälzungen durch den Bürgerkrieg und die neue Ideologie wahrnahmen und was dabei in ihrer Seele, wie die Psyche damals noch hieß, passierte – das kann man nirgends genauer erfahren als bei Platonow. In der erlebten Rede ist er ganz bei seinen Figuren, gibt jeder eine eigene Stimme und bewertet nichts.“ Sigloch meint, „hätte Platonow auf Deutsch geschrieben, hätten seine Figuren wahrscheinlich Dialekt gesprochen“.

Von da aus kommt er auf die Übersetzung des Romans „Tschewengur“ von Renate Reschke zu sprechen: „Reschkes Figuren reden wie deutsches Spießertum oder wie sozialistischer Realismus. Die Übersetzerin ‚verbessert‘ dauernd, auch den Erzähler. So lässt sich kaum ahnen, was Platonow erreichen wollte: eine neue sozialistische Sprache.“ Aber Sigloch sagt auch: „Renate Reschke traut sich in ihrer Neuübersetzung manchmal etwas Gewagtes zu, um dann gleich den nächsten Satz zu normieren. Bei Platonow sagt zum Beispiel jemand: ‚Man muss einen Punkt mitten in der Not finden und sofort auf ihn schlagen.‘ Reschke macht daraus: ‚Man muss einen Ansatzpunkt inmitten der Not finden und dort einen Vorstoß machen‘.“

Ich fand „Tschewengur“ trotzdem ganz schön sursozialistisch, einige seiner Fans fühlten sich an Beckett erinnert. In der Erzählung „Dshan“ (1935) hat der sowjetischste Schriftsteller Andrei Platonow aus dem Schafhirten Tschagatajew, der in Moskau eine Ausbildung als Ökonom absolvierte, einen umsichtigen Hirten seines kleinen Volkes der Dshan gemacht, das sich aus Angehörigen „unterschiedlicher Nationalitäten“ zusammensetzt: „Flüchtlinge, Waisen und entkräftete Sklaven“, die in der usbekischen Wüste ins Elend geraten sind. Er soll sie dort herausführen (Ansatzpunkte inmitten der Not finden). Zunächst fordert er sie auf, durchzuhalten und sich in Bewegung zu setzen. Dabei stoßen sie auf eine herrenlose kleine Schafherde, die sie einfangen …“

Für mich sind die Schafe Dreh- und Angelpunkt der „Dshan“-Erzählung. Für den Russisten Michael Leetz ist es darüber hinaus auch Stalin, wie er im Nachwort zu seiner Neuübersetzung der Erzählung „Dshan oder die erste sozialistische Tragödie. Prosa – Essays – Briefe“ erklärt. Ihr liegt die unzensierte Originalfassung zugrunde, die erst 1999 in Russland veröffentlicht wurde. Die Neuübersetzung von Michael Leetz erscheint im Quintus-Verlag, der sie am Sonnabend im Roten Salon der Volksbühne vorstellt. Zu Rosa Luxemburg fällt mir noch ein, dass im Roman „Tschewengur“ ein Pferd so hieß.

Platonow wurde als Sohn eines Metallarbeiters und Ältester von 10 Kindern in einem Dorf in der Nähe von Woronesch geboren. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, 1924 wurde er Ingenieur. Er begann Anfang der 1920er Jahre mit der Veröffentlichung von Erzählungen, zugleich arbeitete er als Spezialist für Landgewinnung in Zentralrussland. Hier wurde er Augenzeuge der durch die Zwangskollektivierung verursachten Veränderungen und Schäden. Er war ein Mitglied der landwirtschaftlichen Schriftstellervereinigung Perewal.

Seine beiden Hauptarbeiten, die Romane „Tschewengur“ und „Die Baugrube“, entstanden zwischen 1926 und 1930. Diese Arbeiten brachten ihm heftige offizielle Kritik ein. Zuletzt war er für die Sauberkeit auf dem Hof des Moskauer Literaturinstituts verantwortlich. Aber er schrieb weiter, ohne große Hoffnung auf Veröffentlichung. Mit dem Dichter Ossip Mandelstam konnte er sagen: „Es ist so weit gekommen … Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden. Die ersteren sind schmutziges Zeug, die letzteren – abgestohlene Luft.“

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