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„Lachen und Weinen müssen sich nicht ausschließen“

Warum weinen wir? Weil wir uns so die Tragik einer Situation eingestehen können, sagt der Forscher Ulrich Kropiunigg. Ein Gespräch über Krokodilstränen, Lachanfälle und den Umgang mit Trauer

Weinen tut gut, weinen ist peinlich, weinen befreit Fotos: Alexandre Meneghini/reuters;Elijah Nouvelage/reuters;Bernd Müller/imago

Interview Jana Lapper

taz am wochenende: Herr Kropiunigg, warum weinen wir eigentlich?

Ulrich Kropiunigg: Zunächst gibt es die sehr offensichtliche Funktion, dass Tränen die Augen befeuchten, das Sehen gewährleisten und beispielsweise Fremdkörper herausschwemmen. Warum der Apparat für die emotionalen Tränen entstanden ist, wissen wir nicht wirklich. Der ist wohl erst im Laufe der Zeit dazugekommen.

Wie denn?

Eine Theorie war lange, dass Menschen früher am Lagerfeuer gesessen und dort zusammen sentimental geworden sind. Durch den Rauch haben ihre Augen angefangen zu tränen. So haben die Menschen Sentimentalität mit Weinen verknüpft – eine Konditionierung. Aus heutiger Sicht eine fragwürdige Spekulation.

Wie entstehen solche Tränen denn rein körperlich?

Vereinfacht gesagt: Emotionen erzeugen einen Trigger, der auf das Nervensystem einwirkt. Das wiederum ist eng mit der Tränendrüse verbunden. Die Tränendrüse ist also der Resonanzkörper dieser Gefühle.

Wie erklären Sie es sich denn, dass Menschen aus Trauer weinen?

Praktisch läuft das so ab: Bei Trauer kippen wir vom sympathischen in den parasympathischen Zustand, also von einem Zustand der Anspannung in einen Zustand der Entspannung, nämlich wenn wir loslassen, aufgeben, keine Hoffnung mehr haben. Dieser Zustand regt die Produktion von Tränenflüssigkeit an. Das beobachten wir, wenn eine geliebte Person stirbt. Alle Zukunftspläne oder Wünsche mit dieser Person sind plötzlich nicht mehr möglich – man fällt in sich zusammen und weint bitterlich.

Und bei Freudentränen?

Ulrich Kropiunigg

72, war bis 2012 Professor für Psychologie an der Universität Wien. Jetzt ist er Forschungsdirektor der NGO Frauen ohne Grenzen in Kärnten. Er hat das Buch „Indianer weinen nicht. Über die Unterdrückung der Tränen in unserer Kultur“ geschrieben.

Ja, die erscheinen zunächst paradox: Warum weinen Menschen gerade in glücklichen Momenten? Aber praktisch läuft das genau wie bei Tränen aus Trauer ab: Erst die Erregung, dann das Loslassen. Wenn eine Sportlerin die Olympische Medaille erringen will, weiß sie natürlich nicht, ob es klappt, bis sie tatsächlich gewonnen hat. Sie befindet sich in höchster Anspannung. Die Freude über den Sieg ist dann gleichzeitig das Loslassen: Sie muss nicht mehr bangen, die Tränen fließen, obwohl sie gleichzeitig lacht. Lachen und Weinen müssen sich nicht ausschließen.

Bei einem richtigen Lachanfall kommen einem ja auch oft Tränen.

Das kommt durch die Verkrampfung des Körpers. Beim Lachen zwickt man die Augen zusammen, verzerrt das Gesicht geradezu. Es sind in dem Sinne nicht wirklich emotionale Tränen, sondern mechanische. Ganz ähnlich wie bei den berühmten Krokodilstränen. Man hat herausgefunden: Beim Verschlingen ihrer Beute reißen sie ihr Maul so weit auf, dass Nerven eingequetscht werden. Daher die Tränen.

Gibt es denn Tiere, die tatsächlich weinen? Oder sind nur die Menschen so gefühlsduselig?

Sicher kann ich das nicht sagen, aber die physiologischen Abläufe – also Erregung und Entspannung – sollten bei allen Lebewesen ähnlich sein. Insbesondere Muttertiere, die ihre Jungtiere verteidigen, befinden sich in extremen emotionalen Zuständen.

Manchen Menschen fällt es schwer zu weinen. Warum ist uns das manchmal peinlich?

Wir leben eben in einer neoliberalen Gesellschaft, in der Leistung die oberste Doktrin ist. Man darf bloß keine Schwäche zeigen. In bestimmten Branchen wie der Politik oder der Wirtschaft ist das Weinen besonders tabuisiert. Wir haben auch eine Befragung unter Medizinern durchgeführt. Am Anfang ihrer Karriere geraten sie sehr oft in Situationen, in denen Tränen fließen. Das gewöhnen sie sich aber sehr schnell ab, um noch als Arzt oder Pflegepersonal funktionieren zu können. Dabei wäre Weinen als eine Art Selbstheilung in vielen Momenten vielleicht besser.

Was meinen Sie mit „Selbstheilung“?

Zunächst einmal ist es grundsätzlich besser zu weinen, als nicht zu weinen – wenn es nun mal einen Anlass gibt. Es ist ein wichtiger Schritt, um sich die Tragik einer Situation einzugestehen und nichts zu verdrängen. Aber Tränen sind unspezifisch. Viel wichtiger wäre es, die Gründe des Weinens zu benennen und mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Wenn man über den Inhalt nicht sprechen kann, wird man sich hinterher nur doppelt elend fühlen. Dann ist das Weinen auch unnütz.

Weinen und Kommunizieren gehen also Hand in Hand?

Es gibt die Theorie, dass Weinen ein symbolischer Hilferuf ist. Sieht man jemanden weinen, möchte man sofort wissen: Warum weint diese Person? Und wie kann ich ihr helfen? Der ursprüngliche Sinn des Weinens ist es also, andere dazu zu bringen, mir beizustehen. Das kann natürlich missbraucht werden. Schon im alten Rom gab es ein Handbuch, wie Weinen zu imitieren sei, um Mitleid zu erregen oder bei der angebeteten Person Liebe zu erwecken.

Und wenn jemand allein in seinem Kämmerchen weint?

Dann ist der Mensch vielleicht schon in einer Situation, in der er wenig Hoffnung hat und von außen keine Hilfe mehr erwartet. Oder jemand nimmt sich den ganzen Tag zusammen, weil das Weinen in der Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft eben tabuisiert ist, und tut es dann, wenn er oder sie zu Hause allein ist.

Stimmt es denn, dass Frauen mehr weinen als Männer?

Ja, das stimmt. Das hängt viel damit zusammen, dass es ihnen auch mehr zugestanden wird als Männern.

Wird an anderen Orten der Welt anders geweint als in Deutschland?

Die Amerikaner weinen zum Beispiel mehr, die Bulgaren weniger als der Durchschnitt. Außerdem hat man vor Jahren das Trauerverhalten in Schottland und im Swasiland untersucht. Ein Jahr nach einem Todesfall waren die schottischen Probanden unglücklicher mit ihrem Verhältnis zur verstorbenen Person als im Swasiland. Dort ist das Trauern ritualisiert: Eine Woche lang bleiben die Angehörigen in ihrer Hütte. Sie müssen weinen, müssen bestimmte Rituale durchführen. Aber in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren sollen auch Trauernde rasch wieder funktionieren.

Warum tun es sich Menschen eigentlich an, traurige Filme zu schauen und dann im Kino zu weinen?

Das hat sicher damit zu tun, dass wir empathische Lebewesen sind. Das Kino ist aus therapeutischer Sicht eine gute Gelegenheit, sich in Mitgefühl zu üben, und dazu noch recht praktisch: Wenn der Film zu Ende ist, ist man den Figuren auf der Leinwand nicht weiter verpflichtet. Dazu noch die Dunkelheit und Anonymität des Kinosaals. Dasselbe gilt für das Theater, das man früher nicht umsonst „Tränenfabrik“ genannt hat. Hier sollen jene Gefühle systematisch erzeugt werden, für die im Alltag die Zeit fehlt oder alles zu kompliziert ist.

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