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Ulrich Schulte über die Absage der Grünen an Cem ÖzdemirEin Hauch von Tragik

Es gibt eine schlichte, aber beliebte Lesart der Entscheidung der Grünen-Bundestagsfraktion. Sie lautet in etwa: Ja, sind die Grünen denn verrückt geworden, dass sie Cem Özdemir nicht zum Chef machen? Den besten Redner der Fraktion, dieses Schwergewicht mit seinen vielen Talenten? Warum verzichten sie ohne Not auf einen Promi in der ersten Reihe, den fast alle Deutschen kennen und viele mögen?

Das sind berechtigte Fragen, aber ein bisschen genauer hinschauen sollte man dann doch. Denn die Fraktion hat in Wirklichkeit sehr genau nachgedacht – und klug entschieden.

Zwei valide Gründe hätten für Cem Özdemir gesprochen: Mit seiner Performance, seinen rhetorischen Fähigkeiten, seinem Talent zur Zuspitzung stellt er eindeutig Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, die alten und neuen ChefInnen, in den Schatten. Wie der Charismatiker Özdemir die AfD im Plenum vorführt, ist zweifellos sensationell.

Der „anatolische Schwabe“ (Ö. über Ö.) wäre außerdem in der Lage, Mi­lieus in der bürgerlichen Mitte anzusprechen, die früher ihr Kreuz bei der CDU machten. Der Ultrarealo strahlt weit über die grüne Kernklientel hinaus.

Jeder weiß, wo sein Platz ist

Aber wahr ist auch: Diese Qualitäten werden bei den Grünen gerade nur bedingt gebraucht. Niemand würde im Ernst behaupten, dass die Ökopartei ein Performanceproblem hätte. Dafür tanzen Robert Habeck und Annalena Baer­bock zu kunstfertig im Rampenlicht, dafür funktioniert die Rollenverteilung zwischen Partei- und Fraktionsspitze zu gut. Es schadet nicht, dass jeder weiß, wo sein Platz ist.

Auch den Schritt in die liberale, bürgerliche Mitte – wie auch immer man sie definieren möchte – haben die Grünen längst geschafft. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen sind massenhaft WählerInnen von CDU und CSU zu den Grünen übergelaufen.

Ein Fraktionschef Özdemir würde also Probleme adressieren, die im Moment nicht existieren. Viele Abgeordnete haben das verstanden. Und bei der Wahl eine Risikoabwägung vorgenommen, die für Özdemir schlecht ausfiel. Es gab ja lange Phasen in seiner Biografie, in denen er nicht gerade als Team­player aufgefallen ist. Die Jahre, in denen er mit Simone Peter die Partei führte, waren fürchterlich: Intrigen, unschöne Szenen, offene Verachtung – und Özdemir spielte dabei eine ungute Rolle. Natürlich kann ein Politiker dazulernen, und Cem Özdemir hat bewiesen, dass er dazu in der Lage ist. Aber klar ist auch: Wer sich um eine Führungsrolle bewirbt, muss sich an seiner Vergangenheit messen lassen. Özdemir konnte die Zweifel der Fraktion nicht ausräumen.

Es ist etwas aus der Mode gekommen, bei Personenwahlen über Inhalte zu sprechen. Meist geht es in den Analysen um Charisma, Rhetorik und Verkaufe. Reden wir also mal über Inhalte, ausnahmsweise.

Reise in die Vergangenheit

Cem Özdemir steht am konservativen Rand der Grünen. Er will Außenpolitik bekanntlich nicht mit der Yogamatte unter dem Arm machen. Mit Umverteilung von unten nach oben kann er wenig anfangen, eine Vermögensteuer hält er für eine linke Ver­irrung. Geld möchte er lieber in Schulen stecken, statt Hartz-IV-BezieherInnen allzu großzügig zu bedenken. Auch für die Wünsche der Wirtschaft hat er Verständnis, vielleicht etwas zu viel.

Die Grünen von heute ticken anders, radikaler, progressiver. Sie werben für den Abschied von Hartz IV und eine sanktionsfreie Grundsicherung, für einen starken Staat, für eine härtere Ordnungspolitik und weniger Markt. Özdemir passt dazu nicht ideal.

Özdemir hatte im Bundestagswahlkampf 2017 seine Chance, sein Konzept scheiterte. Auch wenn er selbst die Dinge heute anders analysiert: Viele Abgeordnete sahen sein Angebot eher nicht als Aufbruch, sondern als Risiko für eine Reise in die Vergangenheit. Zumal ein Sieg Özdemirs das Aus für Anton Hofreiter bedeutet hätte. Dessen Auftritte funkeln nicht, aber inhaltlich ist er für die Grünen unverzichtbar. Den kompetentesten Öko in der Führungsriege aus dem Spiel zu nehmen ist angesichts der Zuspitzung der Klimakrise eine abenteuerliche Idee, auch mit Blick auf eine künftige Regierungsbeteiligung.

Dennoch: Die Niederlage Özdemirs umweht ein Hauch Tragik. Kaum ein Grüner genießt in Unternehmerkreisen so eine Glaubwürdigkeit – und Vertrauen ist für den sozialökologischen Umbau der Wirtschaft entscheidend. Dann wäre da seine Biografie: Özdemir, Kind türkischer Gastarbeiter, das sich von ganz unten hochgearbeitet hat, ist einer der wenigen Spitzenpolitiker überhaupt mit Migrationshintergrund. Dieser Mann ist ein Rolemodel für viele.

Die Grünen täten gut daran, ihm die Bühne zu geben, die ihm gebührt. Auch wenn es mit der Fraktionsspitze nicht geklappt hat.

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