Tennisprofi Rafael Nadal: Ozeanweite Einsamkeit
Über Roger Federer schreibt man blumige Essays, über Rafael Nadal hingegen Symptomsammlungen. Er ist ein Mann der Rituale.
E rst die Hose gerade zuppeln, dann das T-Shirt, dann Griff ans rechte Ohr, über die Stirn zur Gesichtsmitte, einmal die Nase wischen, linkes Ohr, wieder die Nase, kurzer Knick nach vorne, Blick nach vorne, dann der Aufschlag mit maximaler Kraft. So sieht es aus, Rafael Nadals Aufschlagritual, eine ganze Choreografie.
Und das ist nur der Hauptteil, die Peripetie. Rafael Nadal hat eine ganze Oper an kleinen und großen Motiven und Themen um das Tennisspiel herum aufgebaut. Vor jedem Match muss er kalt duschen, und auf dem Platz muss so viel Ordnung herrschen, wie nur geht: die Socken auf der gleichen Höhe, die Trinkflaschen immer mit dem Etikett in eine Richtung, beim Seitenwechsel dürfen keine Linien berührt werden.
Die Kommentator*innen haben viele Worte dafür, was Rafael Nadal da auf dem Platz veranstaltet: Marotten, Spleens, Ticks. Häufig sind sie Anlass für amüsierte Verwunderung, spitze Kommentare, bestenfalls gönnerhaftes Verständnis. Es ist irgendwie übertrieben, aber nicht wirklich gefährlich; ein wenig kurios eben. So ist er, der Rafa: neurotisch eben. Über Roger Federer schreibt man blumige Essays, über Rafael Nadal hingegen Symptomsammlungen.
Tennis ist ein Spiel, das sich oft genug im Kopf entscheidet. Die wichtigen Punkte zu machen, im genau richtigen Moment konzentriert und fokussiert zu sein, ist von herausragender Bedeutung. Viele Profis haben sich dafür eine Art von Verhaltenstherapie aufgebaut, Handlungen, in denen sie sich wiedererkennen. Serena Williams bindet sich die Schuhe auf immer die gleiche Art, und vor jedem Aufschlag lässt sie den Ball exakt fünf Mal prellen. André Agassi spielte Roland Garros einmal ohne Unterhose, weil er sie im Auftaktmatch vergessen hatte.
Bei einem seiner letzten Wimbledon-Auftritte pflegte Goran Ivanisević den immer gleichen Tagesablauf: Morgens zum Frühstück schaute er immerzu die „Teletubbies“, obwohl er schon sehr bald begann, die Sendung zu hassen. Abends aß er immer im gleichen Restaurant, am immer gleichen Tisch, immer die gleiche Mahlzeit: Fischsuppe, Lamm mit Pommes Frites, Eis mit Schokoladensauce. In der zweiten Woche, so gab er später zu, habe er das Steak nur noch hinuntergewürgt bekommen, weil er sich vorstellte, es sei Hühnchen.
Tennis mit dem Vorschlaghammer
Rafael Nadal nennt das seine Rituale. „Ich baue eine Wand um mich herum, während ich spiele“, sagt er, „es ist mein Weg, um mich in einem Spiel zu positionieren, die Dinge um mich herum so zu ordnen, wie ich meinen Kopf gern sortiert hätte.“ Kurzum, sie stellen sicher, dass er funktioniert, indem er sich abschottet vom Publikum, vom Gegner, von den eigenen Versagensängsten.
Rafael Nadals Spiel ist ein basales, eines, das auf Grundlagen baut. Maßgeblicher Bestandteil ist eine überdurchschnittliche körperliche Fitness, kaum ein Spieler kommt derart über brachiale Kraft wie Nadal. Sein Paradeschlag ist der Vorhand-Topspin, den er mit derart vielen Umdrehungen schlägt, dass seine Gegner den Ball immer um einiges höher treffen müssen, als sie es gewohnt sind: es ist kein Winner-Schlag, nichts Spektakuläres; dieser Topspin zwingt zu Fehlern, er zermürbt den Gegner mehr, als dass er ihn vorführt. Tennis mit dem Vorschlaghammer statt dem Florett. Und diese Zermürbung funktioniert: in engen Spielen ist regelmäßig Rafael Nadal derjenige, der seine Nerven beisammenhält.
Die Freudlosigkeit, das Zwanghafte, das diese Rituale ausdrücken, ist am Ende nicht das Symptom eines einzelnen Spielers oder einer Spielerin. Es ist vielmehr das Symptom eines Profisports, der keine andere Währung kennt als den Erfolg. Und Erfolg hat Rafael Nadal: 19 Grand Slams hat er gewonnen, 12 davon in Paris, was ihn zum erfolgreichsten Sandplatzsspieler ever macht.
Es gibt etwas, das bei all diesen Ritualisierungen verloren geht; die Lockerheit, das Lächeln, der Genuss des Moments. Kurzum, das Spielerische. Nie scherzt er mit den Ballkindern, nie hat er auch nur einen Seitenblick für das Publikum. Das also ist die Bedingung des Erfolges: eine ozeanweite Einsamkeit inmitten eines voll besetzten Stadions.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!