: Eruption der Geschichte
Schon in der DDR nutzten KünstlerInnen das Plateau auf den Ahrensfelder Bergen in Marzahn. Nun will das Kollektiv Plastique Fantastique zum 40-jährigen Stadtteiljubiläum die Schichten dieser Berge mit einer begehbaren Installation in Bewegung bringen
Von Julia Lorenz
Die Ahrensfelder Berge in Marzahn sind ein Ort mit Symbolkraft. Wer dort steht, auf 114,5 Metern über null, und von der vierthöchsten Erhebung Berlins blickt, schaut gen Westen hinein in die Innenstadt, in Richtung Osten nach Brandenburg. Eine Schnittstelle zwischen Großstadt und Land, zwischen Lebensentwürfen und -realitäten und, wie zuletzt die Landtagswahl in Brandenburg bestätigte, auch zwischen den politischen Standpunkten. Nur wenige Kilometer entfernt vom polyglotten Zentrum Berlins holte die AfD in Brandenburg 23,5 Prozent der WählerInnenstimmen. Zwischen diesen Welten liegt Marzahn: in den 90ern berüchtigt als Stadtteil mit handfestem Neonaziproblem, lange Synonym für traurige Hochhaussiedlungen – aber in den vergangenen Jahren, der Gentrifizierung und den Bestrebungen vieler Locals sei Dank, auch immer attraktiver für die Kulturszene.
Schon in der DDR nutzten KünstlerInnen das Plateau auf den Ahrensfelder Bergen. Nun soll hier temporär der höchste Berg der Stadt entstehen: Im Rahmen des Festivals „114 über Marzahn“ will das Kollektiv Plastique Fantastique um die ArchitektInnen Yena Young und Marco Canevacci (Künstler-Aliasse: Ms. Inflatable und Dr. Bubble) einen Vulkan errichten. Die Gruppe, gegründet 1999, ist bekannt für ihre Plastik-Skulpturen und -installationen, die oft bei Konzerten, Lesungen oder Festivals als Begegnungsräume auf Zeit dienen.
Parallel zum Festival in Marzahn stellen Plastique Fantastique auf der 58. Venedig-Biennale aus. Ihr Beitrag „Blurry Venice“ ist eine dünnmembranige, begehbare Installation – eine imaginäre Landschaft, wie es das Kollektiv formuliert, ein Ort, an dem BesucherInnen erproben können, sich ohne Wände, Boden und Decke durch die Welt zu bewegen. Mit den Gegebenheiten von Landschaften und Räumen arbeiten – und dabei kleine Utopien mit Ablaufdatum schaffen: So könnte man die Arbeit von Plastique Fantastique vielleicht zusammenfassen. Die ArchitektInnen Canevacci und Young unterstützen dabei viele weitere KollaborateurInnen.
Das eigens für das „114 über Marzahn“-Festival konzipierte Werk „Marzahner Ausbruch“ wollen Plastique Fantastique mittels Folie realisieren, die mithilfe Druckluft zu einem kegel- oder eben vulkanförmigen, lichdurchlässigen Objekt aufgepustet wird. Auch diese Installation soll begehbar sein; aus dem Inneren des Vulkans können die Besucher*innen in die Natur blicken. Sogar rauchen soll das Kunstwerk. Allein: Warum soll sich ausgerechnet ein Vulkan über Marzahn erheben? Vielleicht, weil es so arg brodelt im Stadtteil?
„Die Ahrensfelder Berge haben eine lange Geschichte und viele Schichten. Ein Weg, diese Schichten durcheinander zu wirbeln, ist eine Eruption“, sagt Marco Canevacci. Die Idee von Plastique Fantastique, die Schichten der Berge in Bewegung zu bringen, ist eine spielerische Intervention – aber tatsächlich erzählt die Beschaffenheit der Ahrensfelder Berge viel über die Stadtteilgeschichte. Entstanden in der Eiszeit, wuchsen die Berge in den 80ern und frühen 90ern in die Höhe, weil man sie beim Bau der Marzahner Hochhaussiedlungen als Schutt- und Müllkippe nutzte. Später wurde die ehemalige Deponie zum Landschaftspark umgestaltet. Ein grünes Idyll auf den Überresten realsozialistischer Stadtplanung: Schon wieder so ein starkes Symbol.
Sich die Geschichte des Ortes bewusst zu machen, sei ein Ziel der Intervention – ein anderes sei der Austausch. Die BesucherInnen dürfen etwa im Inneren der Installation zu Lava werden, kündigt das Kollektiv an. „Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass man in Diskussion mit der lokalen Community tritt“, sagt Yena Young. Wie wahrscheinlich viele Menschen, die im Zentrum Berlins leben und arbeiten, hatten auch Young und Canevacci vor der Arbeit an der Installation wenig Bezug zu dieser Landschaft um die Ahrensfelder Berge. Aber anders als so oft, wenn sich die Kulturszene in die Peripherie wagt, soll beim Festival „114 über Marzahn“ kein Ufo im Stadtteil landen. Denn Karoline Köber, eine der Initiatorinnen des Festivals, ist bestens mit Marzahn vertraut und sucht den Anschluss zu den AnwohnerInnen.
Mit verschiedenen (kostenlosen) Walks und Führungen – etwa einer Fahrradtour durchs Areal, einem geowissenschaftlichen Spaziergang, einer botanischen Wanderung oder einer Sternenführung – und vielen Kunstaktionen wollen Köber und ihre MitstreiterInnen das 40-jährige Jubiläum des Bezirks Marzahn-Hellersdorf feiern. Neben der Installation von Plastique Fantastique wird das Kollektiv Team Endeffekt einen Kunst-Campingplatz errichten, der Elektronikmusiker Janek Sprachta gibt ein Konzert, der Künstler Erik Göngrich erklärt, wie sich die Grünanlagen des Bezirks durch „Subbotnik“-Aktionen seiner BewohnerInnen, also ehrenamtliche Arbeitseinsätze am Sonntag, verändert haben.
Und die Künstlerin Franziska Harnisch zentriert in ihrem Fotoprojekt „Mein Blick“ die Perspektive der PlattenbaubewohnerInnen auf Marzahn. „In einer Zeit, in der viele nationalistische und faschistische Ideen in der Gesellschaft hochkochen, vor allem im Osten, kann eine erzwungene Durchmischung eine Möglichkeit sein, andere Menschen kennenzulernen“, sagt Marco Canevacci. Zwar könne sich eine Eruption auch in „unkontrolliertem Kotzen“ äußern, sagt er. Aber vielleicht braucht es manchmal gerade diese Art der Schock-Konfrontation, um den Graben zwischen den Lebenswelten zu überwinden.
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