US-Elektronikproduzent Huerco S: Nur Sound, sonst nichts
Der US-Ambient-Produzent und DJ Huerco S bestreitet beim Festival Berlin Atonal einen Abend mit Künstlern seines Labels. Ein Porträt.
Kunst ist auch Ware – und Waren müssen Zwecke erfüllen. Fahrstuhlmusik etwa wurde parallel zum Bau der ersten Wolkenkratzer erfunden, damit Menschen, die nach oben fahren, nicht in Panik geraten. Später wurde aus Muzak Ambient. Heute steht dieser Begriff synonym für instrumentale elektronische Sounds ohne Beat, dafür weitgehend atmosphärisch klingend. Ambient soll vergessen lassen, dass überhaupt Musik läuft.
Auch die Klangwelt des US-Produzenten Huerco S. firmiert unter diesem Rubrum. Während Ambient beim Einsortieren im Plattenladen sinnvoll erscheint, könnte Huerco S., der eigentlich Brian Leeds heißt und im Mittleren Westen der USA aufgewachsen ist, von den Eigenschaften, die ihm zugeschrieben werden, nicht weiter entfernt sein. Statt einzulullen zieht Huerco S.’ Musik in den Bann, rüttelt auf, zwingt zum Hinhören.
Ein Sound, der dazu auffordert, Zusammenhänge zu suchen, wo noch keine sind, und Kontexte aufzulösen, wo welche waren. So wabern die aus etlichen Partikeln zusammengesetzten Klanggebilde schwerelos umher, ohne Zeit und Raum, bevor sie sich zu subtilen Loops entwickeln, deren Anfang und Ende unbestimmt bleiben. Es ist Musik, zu der sich schweben lässt, sie schraubt die Herzfrequenz herunter und aktiviert zugleich alle Sinne.
Seinsvergessenheit auf dem Dancefloor
Bewusst spielt Brian Leeds mit der Seinsvergessenheit auf dem Dancefloor. Während der Endzwanziger unter seinem in der globalen Club-Szene berühmten Alias Huerco S. auf Alben wie „Colonial Patterns“ (2013), „For Those Of You Who Have Never (And Also Those Who Have)“ (2016) beatlose Musik komponiert, legt er als DJ Tracks zwischen House und Techno auf.
Kontexte zu wechseln, fällt ihm schwer. „In den Siebzigern, als in New York Disco losging, standen DJs nie im Zentrum“, sagt er im Interview auf einer Parkbank in Berlin-Kreuzberg. Damals habe es die Musik gegeben und die, die zu ihr tanzen. Heute ginge es in den Clubs zu wie beim Rockkonzert, DJs müssen als Stars performen. Er werde nervös, wenn Scheinwerfer auf ihn gerichtet seien. „Das Beste wäre Dunkelheit und keine Bühne“, sagt er und nimmt einen Schluck Mate, um „wach zu werden“.
Leeds, der am liebsten nachts arbeitet, „weil die Welt stiller ist“, musste ausnahmsweise früh raus, um sich in die Schlange vor dem Bürgeramt einzureihen. Die Berliner Servicewüste ist nichts gegen den täglichen Existenzkampf in New York, wo alles ein bisschen rauer, anonymer und vor allem teurer ist als in der deutschen Hauptstadt. Der Grund, weshalb Leeds vor Kurzem aus dem Big Apple, wo er die letzten sieben Jahre gelebt hat, hierher gezogen ist? „Ich brauchte Tapetenwechsel, weil mein Leben dort stagnierte.“ Außerdem habe er viele Gigs in Europa, es sei „einfacher, von Berlin nach Kopenhagen zu reisen“. Hier könne er sich ein Studio leisten, um mehr Arbeitsroutine zu bekommen. Bisher produzierte Huerco S. zu Hause.
Spirit bewahren
Wie kann jemand in einer Zeit, in der gefühlt alle drei Minuten neue Musik erscheint, Spirit bewahren? Leeds schaut ins Leere und seufzt: „Die Herausforderung ist, fokussiert zu bleiben – und künstlerische Visionen zu entwickeln.“ Selbstreflexion, aber auch Bescheidenheit, spiegelt sich in Leeds’ Werk wider. Sein Debütalbum „Colonial Patterns“, ein impressionistisches Werk mit 14 Stücken („Canticoy“, „Fortification III“), ist inspiriert von der präkolonialen US-Geschichte. Leeds erzählt, dass er in der Kleinstadt Emporia im Bundesstaat Missouri aufwuchs. „Ein Ort, an dem nichts daran erinnert, dass dort einst indigene Stämme gelebt haben.“ Die Musik auf dem Album sei der Darstellungsversuch, wie die Welt dort ausgesehen haben könnte, wenn die Kolonisierung Nordamerikas nicht passiert wäre. Leeds hoffe, dass er damit ein Bewusstsein für die bis heute ignorierte Geschichte erhöhen kann.
Huerco S. presents „Malleable Music“. 31. 8., Ohm Berlin.
https://westmineral.bandcamp.com/
Das Festival Berlin-Atonal läuft von 28. August bis zum 1. September
https://berlin-atonal.com/
Dafür, dass er von indigener Geschichte bis zum Schulabschluss nichts gewusst hat, schämt er sich. „Es gab Indianer-Kultur, auch bekannt als „Mississippi-Kultur“, die sich auf etliche Bundesstaaten ausdehnte. Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert gab es östlich von St. Louis eine städtische Siedlung namens Cahokia, die vorwiegend aus pyramidenartigen Häusern bestand. Dort lebten bis zu 100.000 Menschen. „Eine elaborierte Kultur, von der die wenigsten US-Bürger gehört haben. Geschichte wurde weißgewaschen.“
Überspitzt gesagt, geht es der US-Regierung, die rassistisch gegen Immigranten, Queers, Afroamerikaner*innen und Andersdenkende hetzt, nicht um Historisches. Leeds ist mulmig zumute, weil sich die Migration nach Deutschland anfühle wie Eskapismus. „US-Politiker verstehen einfach nicht, dass das Land, in dem sie leben, nie ihr eigenes war.“
Wer behauptet, dass der Sound von Huerco S. durch seine Randlage nicht dabei hilft, multidimensionalen politischen Entwicklungen etwas entgegenzustellen, dem begegnet Leeds mit einem Gegenargument: Er fragt, ob die Zeitung taz etwas mit der politischen Aktionsform der „temporären autonomen Zone“ zu tun habe. Das, was auch Clubmusik kann: Einen Raum der Inklusion schaffen. Beim Berliner Festival Atonal Festival wird Leeds einen Abend mit Künstlern seines Labels „West Mineral Ltd.“ kuratieren. Dass das im kompakten Ohm stattfindet, ist ein glücklicher Zufall: Es ist Leeds’ Lieblingsclub in Berlin. Dort gebe es nichts, was ablenke, keinen Chill-out-Bereich, kaum Licht, nur die Musik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!