: In dem Muse liegt die Kraft
Eigentlich ist es die Speise schlechthin. Trotzdem fehlt bislang eine Geschichte des Muses
Von Benno Schirrmeister
Jetzt sind die Pflaumen reif und die Äpfel, also ist es Zeit für Mus, das steht fest: Wer das Obst auf dem Markt kauft, wird das ein etwas teures Vergnügen finden. Aber wenn man Allee-Bäume aberntet, deren Früchte nicht den gleichen Esskomfort bieten wie die hoch gemendelte Handelsware, ist das eine tolle Sache: Zwetschgen, klar, aber Norddeutschland steht vor allem voll mit gemeinfreien Mirabellenbäumen, deren Früchten man kein schöneres Ende bereiten kann, als sie durch einen knapp 20-stündigen Garprozess bei 80 Grad im Backofen vier Fünftel ihrer Masse verlieren zu lassen.
Ungewiss hingegen, wie und wo es anfing: Die Quellenlage ist dürftig, auch weil dieses alte Wort bis in die Goethezeit hinein nicht nur für köstliche Fruchtmuse stand, sondern für Speise überhaupt, oder das, was die Native Speaker des Mittelhochdeutschen dafür hielten: zu Brei gekochte Lebensmittel.
Andererseits verharrt die Kunde von der Mus-Herstellung oft im Ungefähren der Anekdote. Wobei auch die aussagekräftig sein kann, wie die Geschichte vom Pflaumenmus aus dem Jahr 1814, als die napoleonische Armee Hamburg und Bremen aufgeben musste, die in dem entlegenen Journal Leuchtkugeln des Harzer Privatgelehrten Carl Nicolai überliefert ist.
Sie spielt in einem ungenannten Ort, dessen „Prediger eben [hatte] Pflaumenmus sieden lassen, als die ersten retirirenden Franzosen daselbst eintrafen“. Diese hätten das Pflaumenmus als „sehr schmackhaft“ empfunden „und wollten daher den Rest desselben mit auf den Weg nehmen“. Eingeschlagen worden sei es in Papier, und zwar in die Handschriften des Predigers. Aber das kann auch antifranzösische Propaganda sein.
Kulinar- und kochhistorisch spannender ist dagegen der Hinweis darauf, dass es sich beim Muskochen um eine gemeinschaftliche Tätigkeit der Dorfgesellschaft handelt, die vom Geistlichen koordiniert wird: Mus wird nur gut, wenn es wirklich langsam und nicht zu stark erhitzt wird. Wer es auf einem Herd eindampft, muss ständig dabeibleiben, damit es nicht angeht: Sich dabei ablösen zu können und für Unterhaltung zu sorgen, liegt nahe.
Dieses kollektive Event verliert sich jedoch, als im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger jeder Bürgerhaushalt die eigene Küche einrichtet, in der das Muskochen zur einsamen und öden Tätigkeit verkommt. Dass in Wilhelm Buschs Bildergeschichte „Pater Filucius“ (1872) der bigotte Jesuit die Gunst des stundenlangen Rührens für nicht ganz so geistliche Exerzitien nutzen will, wirkt sehr lebensnah. Dass Mus als Abwehrwaffe effizient ist, weil die Masse klebt und die Verbrennung intensiviert, macht die Reue des Paters dann glaubwürdig: Es tut ihm in der Seele leid. Und in der Visage weh.
Andererseits lässt sich an der Reaktion der Militärs erkennen, dass diese Form der Obstkonservierung in Frankreich damals kaum bekannt ist. Tatsächlich finden sich dort in den einschlägigen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts kaum Hinweise auf das Konzept des Muses, das in Norddeutschland, Ost- und Südosteuropa weit verbreitet ist.
Zwar schildert der epochale, wenn auch anonyme „Traité de Confiture“ (1689) auch eine Möglichkeit „jegliche Frucht ohne Zucker einzukochen“, aber er bleibt im Französischen die Ausnahme, während im deutschen Sprachraum Mus-Rezepte Legion sind. Ja, sogar allgemeine Lexika erläutern es ausführlich: So lobt Johann Krünitz es in seiner Enzyklopädie als für die Haushaltung „überaus zuträglich“, weil es hilft, Butter und Fleisch zu sparen.
Diese Bedeutung und die Kraft des Muses macht sich auch Gottfried Benn 1952 in seinem Gedicht „Keiner Weine“ zu eigen. In dem wird das „Pflaumenmus aus irdenen Töpfen“ zum Symbol seiner ärmlichen Herkunft, nach der er sich, als einer unwiderbringlich verlorenen Zeit seiner Unschuld, sehnt. Zugleich nutzt er es aber als Waffe gegen jene „Auguren“, die nicht, wie er, nur Mitläufer waren im Höllenreich, und sich jetzt, weinerlich, als große Verfemte stilisieren: „keiner weine,/ keiner sage: ich, so allein.“ Klar, ist heute etwas kryptisch. Aber Nazijurist Carl Schmitt, der Führerstaatsdenker, hat gespürt, dass er voll getroffen wurde, mit der braunen Pampe. Ins Gesicht. Und er war sehr erbittert.
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