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Wie wollen wir als Nachbarn leben?

Am 1. September vor 80 Jahren überfiel Nazideutschland sein Nachbarland Polen – die Folgen sind bis heute spürbar. Die sorgfältig kuratierte literarische Veranstaltungsreihe „Denk mal an Polen!“ holt dieses Datum in unser Gedächtnis

Von Jan Feddersen

Unsere Nachbarn leben einerseits in größter geografischer Nähe; das früher deutsche Stettin ist locker per Tagesausflug zu erreichen, ebenso Słubice auf der anderen Seite des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder, die gegenüberliegende Seite von Frankfurt. Andererseits sind sie mitten in Deutschland. Allein in Berlin leben Zehntausende von Polen und Polinnen, in jeder Hinsicht unauffällig, nicht Teil eines irgendwie problematischen öffentlichen Diskurses: Menschen aus Polen sehen wie der deutsche Durchschnitt aus.

Polen, kurzum, ist viel präsenter in der Bundesrepublik als gewöhnlich geglaubt: Und sei es durch die vielen Bauarbeiter:innen oder Putzmenschen in deutschen Haushalten – Ausdruck europäischer Machtverhältnisse nach wie vor: In Deutschland sind die Löhne höher, noch jedenfalls.

So mag man das Verhältnis von Polen zu Deutschland (oder umgekehrt: von Deutschland zu Polen) für unauffällig halten, langweilig. Eine Differenz indes existiert mächtig, und zwar im Alltagsbewusstsein gerade in diesen Tagen. Zwischen Oder und der Grenze zum Baltikum wie zur Ukraine und Weißrussland wird an den Hitler-Stalin-Pakt erinnert, an die Zerstörung des jungen Nationalstaats Polen durch Nazideutschland wie durch die Sowjet­union. Am 1. September vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, wie es so heißt, konkret wurde er von Deutschland mit der expliziten Absicht, das Land auszulöschen, gegen Polen begonnen.

Forderung nach Reparationen

Die Folgen sind bis heute spürbar, bis hin zur Forderung der aktuellen, nationalbewussten PiS-Regierung an Deutschland nach Reparationen für das erlittene Leid. In Polen wird in diesen Tagen auch an den Warschauer Aufstand gedacht, dem tapferen, vergeblichen Versuch, gegen die Okkupation durch die Wehrmacht zu wehren – was einen erheblichen Unterschied zum deutschen Geschichtsbewusstsein markiert, wo man doch hierzulande vor allem auf das Attentat von Militärs (Stauffenberg & Co.) auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 verweisen kann: netter Versuch, aber kläglich karg an Widerstand gegen den deutschen Volkswahn in Deutschland selbst. Das volksgenössische Einvernehmen war eben groß – und die Aversion gegen alles im armen, slawischen Osten ebenfalls.

„Denk mal an Polen!“, heißt die überaus verdienstvolle Veranstaltungsreihe an Lesungen, die die edition.fotoTAPETA mit der Heinrich-Böll-Stiftung aktuell ausrichtet. „Das Bewusstsein über die Folgen der deutschen Kriegstaten in Polen ist in der deutschen Gesellschaft nur schwach ausgeprägt. Immer noch. Das ist in Polen natürlich anders“, ­schreiben die Veranstalter in ihrer Ankündigung. Und fragen: „Wie also an Polen denken? Wie der Polen gedenken, all der Opfer? Wie sich erinnern? Welche Bilder haben wir voneinander? Wie wollen wir als Nachbarn heute leben?“

Das Programm ist sorgfältig kuratiert, am Donnerstag etwa findet in der Buchhandlung buch|bund in Neukölln eine Gesprächsrunde mit Emilie Mansfeld, Kamil Majchrzak und Jakub Sawicki zu einer in der Tat noch ungelösten Frage: Warum gibt es in Berlin noch kein „Polendenkmal“? Ist am Fehlen einer solchen Einrichtung die nach wie vor vorhandene Abfälligkeit zu spüren, die Deutsche ihren Nachbar*innen gegenüber empfinden?

Die Lesungen, Gespräche und Vorträge finden an sehr vielen Orten Berlins statt – mit einem prominenten Finale am 2. September, im Roten Rathaus, wo das Deutsche Polen Institut und die Bundeszentrale für politische Bildung unter dem Titel „Polen im Zweiten Weltkrieg“ einen Abend mit dem Zeitzeugen Zbigniew Anthony Kruszewski ausrichten: Man höre ihm zu – er ist ein außergewöhnlicher Mann mit starkem Erzähltalent.

Sehr spannend wird am 1. September, dem Datum des bitteren Erinnerungstages, der Abend im Literaturhaus in der Fasanenstraße. Emilia Smechowski, einst taz-Redakteurin, danach Autorin der Zeit und Schriftstellerin (unter anderem „Wir Strebermigranten“), stellt zusammen mit Stephan Wackwitz, bis vor Kurzem Mitarbeiter des Goethe-Instituts in Krakau, Bratislava, Tiflis und Minsk und taz-Autor, sowie Esther Kinsky ihre neuen Bücher vor. Letztere übersetzte aktuell das wichtigste Werk des Dichters Miron Białoszewski „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“.

Smechowskis neues Buch, „Rückkehr nach Polen“, handelt von einer solchen: Wie ist es, in ein Land für wenigstens eine Zeit zurückzugehen, das das Heimatland der Eltern war – und das einem selbst, eben auch durch die Eltern, wie eine Heimat scheint und womöglich nur begrenzt noch sein kann. Es sind teils schon in wochenaktuellen Medien erschienene Reportagen und Beobachtungen, hier famos zur Essayform ausgearbeitet.

Wackwitz hingegen, vorzüglichster Kenner osteuropäischer intellektueller Dissidenz in sowjetischen Zeiten, wird seine in dem Buch „Eure Freiheit, unsere Freiheit. Was wir von Osteuropa lernen können“ formulierten Thesen vorstellen. Die beste dabei: Deutsche, Linke hier besonders, orientieren sich in osteuropäischer Hinsicht immer noch an den Wünschen Russlands – an imperialen Größen, nicht an denen der kleineren Länder wie Polen, der Slowakei, Tschechiens und der Ukraine. Gerade in den einstigen Satellitenstaaten des Kremlregimes werden Ideen der Differenz und Freiheit ernst genommen, praktisch, alltagstauglich, nicht jedenfalls im Sinne imperialer Großwetterlagenseelen.

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