: Flut und Vertreibung
Eine morgendliche Wanderung entlang des Ufers der Talsperre Pöhl. Und Zigaretten mit Dauercamper Udo Stork
Aus Pöhl Kersten Augustin und Paul Wrusch
Wir haben die Nacht im Bulli verbracht, der Wecker klingelt um 5.10 Uhr, draußen sind es 8 Grad. Nebel liegt über dem Parkplatz, als aus dem Dunkeln Autos auftauchen. Um halb sechs knallen Türen, nach und nach steigen grauhaarige Männer und Frauen aus den Autos. Es sind die Naturfreunde. Sie wollen in den Sonnenaufgang wandern, entlang des Ufers der Talsperre Pöhl, wenige Kilometer nördlich von Plauen. Und wir auch.
Durch den dunklen Wald geht es am See entlang, am Horizont wird es langsam hell. Auf der Terrasse eines Ausflugslokals halten wir an und warten, bis die Sonne über dem Wasser aufgeht. Einer der Wanderer kommt zu uns und stellt sich als Dietmar Brömßer vor. Als junger Mann sei er mit dem Motorrad hier reingefahren, sagt er und deutet auf den See. Hier reingefahren?
1958 begannen die Bauarbeiten für die Talsperre Pöhl. Das gleichnamige Dorf wurde geräumt, 420 Menschen umgesiedelt, erzählt Brömßer. Das leere Dorf habe die NVA genutzt, um den Häuserkampf zu üben. 1964 wurde der See dann geflutet.
Auf dem Rückweg läuft Udo Stork neben uns. Er lebt in Erlangen und arbeitet als Pförtner bei den Stadtwerken. Seine Frau kommt aus dem Erzgebirge und ging nach der Wende als Krankenschwester in den Westen. „Wir haben uns beim Faith-No-More-Konzert kennengelernt“.
Ihre Familie campt den ganzen Sommer am See in Pöhl. Und Stork jetzt auch. Er lädt uns auf Kaffee und Zigaretten auf seinen Stellplatz ein. Vor zehn Jahren hätten kaum Westdeutsche hier Urlaub gemacht, heute schon. Stork wundert sich über die Vorurteile seiner Stammtischfreunde in Erlangen. „Es wird viel über Sachsen geredet, nicht mit ihnen.“
Wie sind die Vogtländer so? „Wie fast alle Sachsen, sehr lokalpatriotisch“, sagt Stork. Das ginge so weit, dass sich noch immer eine Verschwörungstheorie halte: Wenn das Wasser in der Talsperre tief steht, dann hat die Konkurrenz aus Leipzig das Wasser für ihre Seenlandschaft bekommen. Er ist nicht der Einzige, der uns an diesem Morgen davon erzählt.
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