StadtgesprächBernhard Clasen aus Kiew: Dieses Jahr gibt es keine Militärparade zum Tag der ukrainischen Unabhängigkeit. Das finden nicht alle gut
Noch im vergangenen Jahr hatte der damalige Präsident Poroschenko mit einer der größten Militärparaden der Geschichte der Ukraine den 27. Unabhängigkeitstag gefeiert. Panzer, Raketenträger, über die Innenstadt donnernde Flugzeuge und marschierende Soldaten aus 18 Ländern hatten den letztjährigen Unabhängigkeitstag geprägt.
Diesen Samstag soll es bescheidener zugehen. Am Samstagmorgen wird Präsident Wolodymyr Selenski mit seiner Familie der Opfer des Maidan gedenken. 100-mal wird eine Glocke in Erinnerung an die im Winter 2013/2014 getöteten hundert Maidan-Aktivisten läuten. Über 600 Musiker, darunter auch Ievgen Orlov, Solist an der deutschen Oper in Berlin, werden den musikalischen Rahmen der Gedenkveranstaltung und des feierlichen Umzugs gestalten. Auch Militärorchester werden mit von der Partie sein. Aber statt einer Großparade erhalten alle Militärs einmalige Prämien zwischen 30 und 60 Euro.
Inzwischen unterstützt auch Ex-Präsident Petro Poroschenko die Bescheidenheit seines Nachfolgers am Unabhängigkeitstag. Gleichzeitig wehrt er sich gegen den Vorwurf, die Militärparade im letzten Jahr sei vollkommen überteuert gewesen.
Doch nicht alle sind mit dem geplanten Ablauf zufrieden. „Mir fehlt der militärische Aspekt bei den geplanten Feierlichkeiten“ erklärte Anton Kolumbet, stellvertretender Chef der Kiewer Veteranenorganisation, gegenüber der taz. Deswegen hätten die Veteranen in Ergänzung der staatlichen Feierlichkeiten einen eigenen „Marsch der Verteidiger der Ukraine“ geplant, der im Anschluss an diese beginnen solle. Derzeit lägen den Veranstaltern bereits 9.000 Anmeldungen vor.
Auch Viktor Muschenko, unter Poroschenko einst Chef des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte, kritisiert das Fehlen einer Militärparade am Unabhängigkeitstag. Die Militärparaden, so Muschenko gegenüber Radio Swoboda, hätten den Soldaten immer wieder gezeigt, dass das Volk die Armee schätze. Davon hätten sich die Soldaten bei der Parade mit eigenen Augen überzeugen können, und so sei dadurch auch der Kampfgeist der Truppe gestärkt worden.
Nina Potarska, ukrainische Koordinatorin der „Women’s International League for Peace and Freedom“, begrüßt die Entscheidung. Dass keine Parade mit all ihren Waffen stattfinden soll, zeige, dass die Regierung die Militarisierung der Gesellschaft herunterfahren möchte. Allerdings, sagt Potarska, kämen vonseiten der Regierung zum bewaffneten Konflikt widersprüchliche Signale.
Insgesamt scheint Präsident Selenski mit seiner Entscheidung gegen eine Parade die Stimmung im Volk richtig eingeschätzt zu haben.
„Ich freue mich, dass die Parade nicht stattfindet. Poroschenko hatte mit seinem riesigen Militärspektakel im letzten Jahr doch nur von seinen eigenen Problemen ablenken wollen. Nun ist Geld für andere Zwecke da“, freut sich die Rentnerin Nadja, die zu Beginn des Krieges aus Donezk nach Kiew gegangen war. Auch sie hat etwas vom Unabhängigkeitstag: Als Binnenflüchtling kommt sie in den Genuss einer einmaligen Zahlung der Kiewer Behörden in Höhe von 15 Euro.
Er sei während des Zweiten Weltkrieges geboren, berichtet ein anderer Rentner. Und deswegen habe er immer den 9. Mai als den Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus gefeiert. Der Unabhängigkeitstag indes sei ein neuer Feiertag für ihn, den er eigentlich nie besonders wichtig fand. Das Land sei hoch verschuldet. Und solange man solche Schulden habe, könne man eigentlich keine Unabhängigkeit feiern.
Auf einer Fortbildungsveranstaltung für ukrainische Journalisten bewundert die weißrussische Journalistin Schanna Novik die Intensität, mit der man in der Ukraine den Unabhängigkeitstag vorbereite. In Weißrussland fange man damit immer erst wenige Tage vor dem Tag an.
Unterdessen hoffen Angehörige der ukrainischen Gefangenen auf einen zügigen Gefangenenaustausch mit Russland. Noch im August könnten 33 ukrainische im Gegenzug zu 33prorussischen Gefangenen freigelassen werden. Das wäre ein schönes Geschenk zum Unabhängigkeitstag.
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