: Wenn die Erinnerungen wieder auftauen
Von den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts erzählen: Jewgeni Wodolaskins Roman „Luftgänger“
Jewgeni Wodolaskin: „Luftgänger“. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 429 Seiten, 24 Euro.
Von Fokke Joel
Ein Mann wacht auf und kann sich an nichts erinnern. Ein Arzt und eine Krankenschwester tauchen auf. Also befindet er sich in einem Krankenhaus. Später fordert der Arzt, der Geiger heißt, den Mann auf, ein Tagebuch über das zu führen, an das er sich zu erinnern beginnt. Es ist der Text, den der Leser von Jewgeni Wodolaskins Roman „Luftgänger“ in Händen hält. Und er sagt dem Mann seinen Namen: Inkonnenti Petrowitsch Platonow. „Respektabel. Vielleicht ein wenig literarisch.“ Platonow, so hieß ein russischer Schriftsteller und auch Tschechows erstes Theaterstück. Irgendwie sieht Geiger, der Arzt, auch wie Tschechow aus. Er trägt sogar einen Kneifer.
Der 1964 in Kiew geborene Schriftsteller Jewgeni Wodolaskin spielt hier mit literarischen Motiven und Rückblenden. Platonows erste Erinnerungen handeln von seiner Kindheit im zaristischen St. Petersburg. Und von seiner große Liebe, die er in den 1920er Jahren kennenlernte. Dann fällt ihm ihr Name wieder ein: Anastassija Sergejewna Woronin. Aber das alles liegt mehr als achtzig Jahre zurück. Und laut dem Ablaufdatum einer Tablettenpackung, die Platonow in seinem Zimmer findet, muss er sich in den 1990er Jahren befinden. Eine Weile später löst Geiger das Rätsel auf: Platonow wurde in den 1930er Jahren in einem Lager in Sibirien eingefroren. Und vor Kurzem – 1999 – wieder aufgetaut.
Das alles ist natürlich unglaubwürdig. Aber es ist wie in Michail Bulgakow „Meister und Margarita“, wo im Moskau der 1930er Jahre Männer mit Pferdefuß auftauchen und seltsame Dinge geschehen. Erzählerisch entwickelt Wodolaskin wie Bulgakow eine immanente Plausibilität des Erzählten, die gar nicht erst die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Ereignisse aufkommen lässt. So kann seine Platonow-Figur, wie der Autor eines historischen Romans, von seiner fast hundert Jahre zurückliegenden Kindheit erzählen.
Platonow landet im Gulag
Auch wenn Platonow nicht an die Politik glaubt, hat sie sein Leben geprägt. Erst wird der Vater von Anastassija in den 1920er Jahren von einem Nachbarn denunziert, dann landet er selbst im Gulag. Er wird vor die Entscheidung gestellt, entweder durch die unmenschliche Arbeit zu sterben oder sich für das Projekt „Lazarus“ zur Verfügung zu stellen und sich einfrieren zu lassen. Schon allein wegen der Monate, in denen er für das Experiment aufgepäppelt wird, entscheidet er sich fürs Einfrieren.
Im zweiten Teil steht die russische Gegenwart im Vordergrund. Zwei weitere Tagebuchschreiber kommen hinzu: Geiger, der Arzt, und Nastja, die Enkelin von Anastassija Woronin, in die sich Platonow, der ja körperlich Anfang dreißig ist, verliebt. Die Namen über den Tagebucheinträgen fallen bald weg, sodass sie nicht mehr den Erinnerungen einer Person zuzuordnen sind. Wodolaskin stellt damit die Frage nach der Authentizität des Erzählten. Können Geiger oder Nastja beschreiben, was Platonow in seiner Jugend erlebt hat? Platonow ist davon überzeugt, ja er denkt sogar: Wenn Nastja „lernte, Dinge zu finden und zu beschreiben, die mir entsprechen, dann könnte mein Leben auch in meiner Abwesenheit weitergehen“.
„Luftgänger“ ist ein gut geschriebener, mit interessanten Reflexionen versehener Roman. Am Ende jedoch fehlt dem Buch der adäquate Ausdruck für die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts, die Wodolaskin ja gerade anhand des Schicksals Platonows zu erzählen versucht. „Unser gemeinsames Schreiben ist“, heißt es an einer Stelle, „der Versuch, Erfahrungen an die Nachkommen weiterzugeben“. Doch die Erfahrung war schon mit dem Aufkommen der Romanform, spätestens jedoch seit dem Ersten Weltkrieg „im Kurse gefallen“, wie Walter Benjamin es in seinem berühmten Aufsatz „Der Erzähler“ ausdrückt. Das alte erzählerische Programm, Erfahrungen weiterzugeben, wurde in einer Welt fragwürdig, schreibt Benjamin weiter, „in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper“. Es ist letztlich doch schade, dass in Jewgeni Wodolaskins Roman „Luftgänger“ von dieser Erschütterung wenig zu spüren ist.
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