: Fontanes Wildschwanjagd
Landpartie entlang der Havel: Auf Schloss Sacrow nehmen 12 KünstlerInnen Gedichte und Prosatexte des Schriftstellers zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit
Von Katrin Bettina Müller
Ein Mädchen sitzt auf dem Kaminsims und liest. Ihr Kleid ist gepunktet, die Haare rot, und wäre sie nicht aus Holz geschnitzt, würde sie kaum auf dem schmalen Sims sitzen können. Das Buch in ihrer Hand, es muss Theodor Fontane sein. Denn schließlich hört man einen Text von ihm aus einer kleinen Box über die Schwäne auf den Havelseen, die „Erhebliches“ beitragen zur „Havelschönheit“. „Was aber mehr als diese Schönheitsrücksicht den Ausschlag gab, war der Wunsch, einen neuen jagdbaren Vogel, einen neuen Sport zu schaffen“, berichtete Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ über die Hege von Wildschwänen. „Es werden jetzt von Zeit zu Zeit Wildschwanenjagden abgehalten.“
Der Hamburger Bildhauer Peer Oliver Nau hat das Mädchen geschaffen für die Ausstellung „Im Ratzenloch“ auf Schloss Sacrow. Es sitzt in einem Zimmer voll hölzerner Schwäne mit weit ausgebreiteten Schwingen. Weitere Schwanskulpturen sieht man durch die Fenster draußen im Park Richtung Havel fliegen. Naus lesendes Mädchen erinnert mich an meine Fontane-Perioden. Denn so ungefähr ab 14 kaufte ich mir vom ersten Taschengeld seine Romane als Taschenbücher und erwartete immer eine Liebesgeschichte, was meistens schiefging. Aber etwas im Rhythmus seiner Sprache zog mich trotzdem immer weiter und weiter.
Die zweite Fontane-Runde war während des Studiums in Marburg bei der Germanistin Marie-Louise Gansberg: Sie adelte das Lesevergnügen gewissermaßen durch ihr feministisches Interesse für Fontanes Frauenfiguren, deren Suche nach Aufstiegsmöglichkeiten, für Fontanes Ausleuchtung ihres schmalen Spielraums und sein Mitgefühl für ihr Scheitern. Die dritte Fontane-Phase kam nach dem Studium, in meiner eiseskalten Neuköllner Küche: Gert Westphal las „Frau Jenny Treibel“ und „Die Poggenpuhls“ im Radio vor. Nie vorher war mir der Dichter so komisch vorgekommen und so trostvoll.
Fontane war mir also oft schon nahe. Deshalb schien es eine gute Idee, an einem Samstag nach Schloss Sacrow zu radeln, im Sacrower See zu baden und im kleinen Schloss die Ausstellung „Im Ratzenloch. 12 Räume. 12 Künstler. 12 Gedichte“ anzuschauen. Wären da nicht die Lautsprecherboxen, die fast in jedem der 12 Zimmer einen Fontane-Text in Endlosschleife abnudeln, oft ungeschickt prätentiös vorgelesen, in den Fluren dazwischen überschneiden sich die Stimmen. Und man sehnt sich nach Ruhe.
Unter den ausgewählten Texten ist die Ballade „John Maynard“, die von einer Schiffskatastrophe erzählt. „John Maynard war unser Steuermann / aushielt er, bis er das Ufer gewann,/ er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,/ er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.“ Dass Generationen von 10- bis 12-jährigen Schülern diese Verse lernen mussten, hat Rainer Ehrt in seiner Installation in einem schmalen Zimmer zum Ausgangspunkt genommen. Kindergroß malt er einen Matrosen und einen verstrubelten Punk mit Totenkopf und „Wanna be famous“ auf dem T-Shirt. Lesen, auswendig lernen, den Sinn der Worte verlieren und wiederfinden, die Ballade wird hier zum beispielhaften Stoff, sich diese Form der Aneignung von Literatur, von vergangenen Sprechweisen wieder vor Augen zu führen.
Freier ist das Spiel, das Jörg Mandernach auf das Gedicht „Der Jockel“, das mit vielen Wiederholungen von nicht erfüllten Aufgaben erzählt, bezieht. In einer Animation verwandeln sich Zeichnungen unablässig, Insekten werden zu Menschen, Masken zu Käfern, Kuhgeläut erklingt. Alles bedeutet etwas und verflüssigt sich wieder in dieser visuellen Poesie.
Das Schloss genannte Herrenhaus in Sacrow hat eine wechselvolle Geschichte. Seine barocke Grundstruktur ging 1938 verloren, als es Dienstsitz des Generalforstmeisters wurde. Nach 1945 wurde es „Erholungsheim für Verfolgte des Naziregimes (VVN)“, ab 1961 lag es im Sperrbezirk zwischen den beiden deutschen Staaten. 1973 richteten die Zoll- und Grenzbehörden der DDR eine Ausbildungsstätte für Spürhunde in dem Park ein. Zwei Räume im Schloss sind der Dokumentation dieser Geschichte vorbehalten.
1993 übernahm die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten das Schloss Sacrow, aber der Plan für ein Museum scheiterte. Seit 2003 ist es der Verein Ars Sacrow e. V., der das Schloss für die Öffentlichkeit zugänglich hält und einmal im Jahr ehrenamtlich eine Ausstellung stemmt.
Dass die Räume einen etwas ruinösen Charme haben, es ein wenig bröckelt und bröselt an den Wänden, kommt den Installationen der Künstler durchaus zugute. Die großformatigen Blumenbilder von Anna Vonnemann im Gartensaal etwa gewinnen durch diese etwas morbide Rahmung.
Der Ausstellungstitel geht natürlich auf ein Fontane-Zitat zurück: „Wenn ich Sacrow jetzt mit dem von 1750 vergleiche, so kann ich sagen, Sacrow war damals ein Ratzenloch“, schrieb er in den Wanderungen. Im Jahr seines 200. Geburtstages heftet sich ein kleiner Förderverein selbst so ein lapidar ironisches Wort mit Freude ans Revers.
„Im Ratzenloch“, Schloss Sacrow, Krampnitzer Straße 33, Potsdam-Sacrow, Fr.–Mo. 11–18 Uhr, bis 22. September
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen