Innovationsstadt Medellín in Kolumbien: Der neue Metrobürger
Medellín ist das kolumbianische Silicon Valley. Nicht zuletzt ihrer Metrokultur hat die Stadt ihre neuen Strukturen zu verdanken.
Der vielleicht wichtigste Motor dieses schönen neuen Medellíns ist die Metro – das Netz von Straßen-, Hoch- und Seilbahnen, die die kolumbianische Millionenmetropole durchqueren. Gegründet wurde diese Metro im Jahr 1995 – zwei Jahre nach dem Tod Escobars. Heute steht die Metro in Medellín für Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung. Ein Kontrapunkt zur „dreckigen Straße“. Dass das so kam, hat mit einem Verhaltenskodex zu tun, den die Stadt seit nunmehr 30 Jahren in den Zügen und auf den Bahnsteigen durchsetzt: die „Cultura Metro“.
Feierabendverkehr. Stoßzeit in der Station San Antonio, Drehkreuz des Nahverkehrs. Hier treffen Geschäftsleute auf Fabrikarbeiter*innen und Beamte auf Tagelöhner, bevor die einen in den reicheren Süden und die anderen in den ärmeren Norden fahren. Täglich nutzen eine Million Passagiere die Metro, jede*r Vierte in der Region. Der Bahnsteig ist grenzwertig voll – und trotzdem warten alle in geordneten Reihen. Überall ist es penibel sauber. Auch in der Metro, steril glänzen die Sitze. Im Zug schweigen sich die Menschen an, Kopfhörer auf den Ohren und Blicke nach unten gerichtet, wo sonst in Medellín im öffentlichen Raum laut telefoniert, gelacht und gesungen wird.
„Sich anders zu bewegen verändert die Mentalität“, sagt Jairo Gutierres, an seinem Schreibtisch sitzend. Gutierres ist dafür zuständig, die Cultura Metro bei den Anwohner*innen der Stationen zu verbreiten. Gutierres hat ordentlich gegelte Haare, trägt Hemd, ist glatt rasiert. Stolz sagt er: „Heute ist die Metro von Medellín eine Referenz für die Stadt, das Land, die ganze Welt.“ Viele Medellíner sind stolz auf ihre gepflegte Metro und das vorzügliche Benehmen ihrer Fahrgäste. Als ein Graffiti-Künstler letztes Jahr beim Versuch, die Metro etwas bunter zu machen, von einem Zug totgefahren wird, folgte in den sozialen Medien der Shitstorm: Wer die Metro verschandelt, habe das verdient, hieß es dort.
Geburtsstunde der Cultura Metro
Die Idee zur Cultura Metro entstand schon, da war die Metro selbst noch gar nicht fertig. Durch eine Pannenserie drohte das Projekt noch vor Eröffnung zu scheitern. Zunächst war bei der Bauauftragsvergabe an ein deutsch-spanisches Konsortium unter der Leitung von Siemens Korruption im Spiel, dann verzögerte sich die Eröffnung um fünf Jahre und die Kosten explodierten. Die Metro ist bereits unbeliebt, da fährt noch kein einziger Wagen. Also starten die städtischen Betreiber eine „Liebe die Metro“-Kampagne. Es ist die Geburtsstunde der Cultura Metro. „Wir sind von Haus zu Haus gezogen und haben die Leute befragt, wie sie sich ihre Metro wünschen“, erinnert sich Gutierres, „Und wenn sie das Gefühl haben, es ist ihre, passen sie darauf auf und benehmen sich gut“, erklärt er.
Was die „Metrokultur“ sein soll, das ist in einem 70-seitigen Buch niedergeschrieben. Dort heißt es: „Die Cultura Metro ist eines der wichtigsten soziologischen Phänomene der jüngeren Geschichte Kolumbiens.“ Das Leitbild wird wie folgt beschrieben: „In den ersten sechs Jahren des Betriebs hat die Metro Verhaltensweisen wiederbelebt, die zu Ordnung, Solidarität, Sauberkeit, Achtsamkeit und Disziplin führen.“
Dass die Regeln eingehalten werden, wird durch sich ständig wiederholende Verhaltensanweisungen sichergestellt. So sagt einer der Metropolizisten, die an jeder Station stehen, alle zwei Minuten: „Bitte denken Sie daran, aus Sicherheitsgründen nicht die gelbe Linie zu überschreiten.“ Die enorme Polizeipräsenz in der Metro sollte anfangs den Menschen in einer unsicheren Stadt das Vertrauen geben, in Ruhe das öffentliche Transportmittel nutzen zu können.
Tatsächlich hat die Metro das Sicherheitsgefühl in der Stadt erhöht. Metrovertreter Gutierres berichtet, wie jüngst neben ihm eine Mutter ihr Kind in der Station zurückließ, um einkaufen zu gehen. Neben den Polizisten patrouilliert an jeder Station eine Putzkraft. Die Idee: An einem sauberen Ort verhalten sich die Menschen auch sauberer. Anfangs braucht es noch die Androhung von Strafe, später verinnerlichen die Leute die Normen.
Die Cultura Metro
Wer heute in der Metro isst, der wird von den anderen Fahrgästen auf das Fehlverhalten hingewiesen, und an der Station San Antonio warten die Menschen bereits in ordentlichen Reihen, nur noch selten braucht es dafür den Hinweis eines „Cultura-Metro-Promoters“, der mit einem freundlichen Lächeln den Fahrgästen an den zentralen Stationen die Regeln erklärt,. „Wir sind eine öffentliche Firma und die Cultura Metro wurde von den Bürgern selbst gefordert“, meint Gutierres. „Die sagten: ‚Wunderbar, bringt uns bei, wie wir uns in der Metro verhalten sollen‘.“
Die Cultura Metro funktioniert in den Anfangsjahren so gut, dass sie zum Vorbild für ganz Medellín wird. „Wir zeigen, dass ein anderes Benehmen möglich ist“, sagt Gutierres. Die Cultura Metro radikalisiert sich, ab sofort soll sie auch außerhalb des Metrosystems gelebt werden. Das Programm „Metrofreunde“ für Kinder wird gestartet und in den Vierteln der Stadt werden Jugendliche zu „Multiplikatoren der Cultura Metro“ ausgebildet.
Während in den traditionellen Bussen die Fahrer ihre Boxen schon mal mit Reggaeton ausreizen, erklingen in der Metro dezent Klassiker der englischen Popmusik. „Ooh baby, baby its a wild world“, säuselt Cat Stevens zwischen zwei Drehkreuzen. Die „wild world“ ist draußen, außerhalb des Metrosystems. Drinnen lässt ihr die Metropolizei keinen Platz. „Señor, den Kaffee können sie nicht mitnehmen“, sagt ein Metropolizist. Und an der nächsten Station sagt ein anderer zu einem weinenden Mädchen „Señorita, beruhigen Sie sich bitte etwas, bevor Sie einsteigen.“
In der Metrobibel liest man: „Es ist oft zu sehen, dass Personen an besonderen Orten wie Kirchen, Krankenhäusern oder Friedhöfen ein korrektes, gut erzogenes und harmonisches Verhalten an den Tag legen. Wenn sie diese Orte verlassen und auf die Straße gehen, fallen sie zurück in eine ungeordnete, aggressive und nachlässige Verhaltensweise.“ Gutierres sagt: „Die Pathologien der Stadt sind Überfälle, Betteln und Obdachlosigkeit.“ Stattdessen solle „ein neuer Metrobürger entstehen“.
Dauerhafte Überwachung
„Cultura Metro ist neoliberale Stadtpolitik“, sagt Melissa Saldarriaga, Professorin für Politikwissenschaft an der Universidad de Antioquia. Auch sie nimmt für ihren täglichen Weg zum Campus im Zentrum die Metro. Saldarriaga forscht zu marginalisierten Gruppen in Medellín und hat ein Faible für das Improvisierte, Spontane und Selbstorganisierte in der Stadt. Ihr mache es Angst, wie die Cultura Metro und ihre Promoter die Bürger*innen nach ökonomischen Interessen umerziehen wolle. „Die Leute sollen homogenisiert werden.“
Wenn Saldarriaga in der U-Bahn steht, versucht sie sich gegen die Anweisungen der Metrokultur zu sträuben, das sei aber hoffnungslos, sagt sie: „Wenn du ständig hörst, was du machen sollst – machst du’s irgendwann. Dagegen kannst du dich gar nicht wehren.“ Normen würden subtil indoktriniert, verinnerlicht und reproduziert. „Nicht nur die Kameras überwachen uns, sondern auch wir uns selbst.“
Gleichzeitig sei die hier propagierte Form von Entwicklung ausschließend, meint die Professorin. Nicht nur innerhalb der Metro. So sei beim jüngsten Bau einer Straßenbahnlinie dafür gesorgt worden, dass das öffentliche Leben der Straße mit seinen informellen Tätigkeiten, der Prostitution und den Bettlern auch aus der Umgebung der Bahn verschwinde. Die Metro ist ausgerichtet an Investoren und Touristen. Obdachlosen und Betrunkenen hingegen wird der Zutritt verwehrt.
Jene, die die straffe Ordnung einengend finden, bekommen die Grenzen der Metrotoleranz zu spüren: Als 2014 ein Geiger in der Metro spielte, warfen ihn Polizisten aus der Bahn. Das Video landete im Internet, und da meldeten sich jene, die kein Verständnis für die Cultura Metro haben, und posteten ihre Erfahrungen mit der Cultura Metro. Darunter ein Vater, der seinem schreienden Kind das Fläschchen gab und von einem Polizisten erinnert wurde: Das Trinken ist in der Metro nicht erlaubt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen