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Identitäten kennen keine Grenzen

Paul Gilroys Theorie „Black Atlantic“ setzte dem kulturellen Nationalismus die Idee einer afrodiasporischen Kultur entgegen, die schon immer hybrid war. Ihr stärkster Ausdruck ist bis heute Musik. Sie klingt so divers wie auf dem Festival „Wassermusik“ im HKW

Von Stephanie Grimm

1993 erschien das Buch „The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness“ des britischen Kulturwissenschaftlers Paul Gilroy. Das facettenreiche Werk markierte eine Zäsur. Es änderte die Art, wie über diasporische Kulturen und interkulturellen Austausch gesprochen wurde. Untermauert hatte Gilroy seine These mit den hybriden Identitäten afrikanischstämmiger Menschen dies- und jenseits des Atlantiks.

Ihm zufolge waren sie schon lange nicht statisch, sondern eher prozesshaft – allein, weil der Sklavenhandel alle sozialen Verbindungen brutal gekappt hatte. Ein Kulturtransfer über Grenzen und vor allem den Ozean hinweg, so Gilroy, sei das konstituierende Merkmal einer „black identity“. Für seine Theorie diente deswegen das Schiff als Metapher, auf dem Meer unterwegs und keinem Land zuzurechnen.

Wie sich die Kulturen dies- und jenseits des Atlantiks wechselseitig befruchtet haben, lässt sich vom 5. bis 27. Juli 2019 bei „Wassermusik“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) erleben. Das seit 12 Jahren stattfindende Festival interpretiert seit jeher wechselnde regionale Schwerpunkte aus globaler Perspektive. Dieses Jahr steht bei schönem Ambiente auf der großen Dachterrasse des HKW (bei schlechtem Wetter drinnen) eben der Black Atlantic auf dem Programm. Im Anschluss der jeweiligen Konzerte werden Filme zum Thema gezeigt.

Detlef Diedrichsen, Festival-Kurator und musikalischer Leiter des Hauses, legte den Fokus auf den Südatlantik, nachdem 2018, anlässlich des Brexits, gewissermaßen der nördliche Teil des Ozeans Thema gewesen war: Um Großbritannien und den Einfluss der Insel auf das globale Popgeschehen.

Jetzt sind Südamerika und Afrika dran; Diedrichsen gerät ins Schwärmen, angesichts der Vielfalt der Traditionen, die dort zu finden sind. Einen „unglaublichen musikalischen Artenreichtum“ gebe es, die Region sei so etwas ein „kulturelles Korallenriff“. Und immer wieder kämen neue Entwicklungen: aus der Karibik, Lateinamerika, England und auch Südstaaten der USA.

Der Austausch reicht nicht nur nach Westafrika, sondern weit in den Osten des Kontinents. Trotz dieses trennenden Meers gibt es, so Diedrichsen, viele Gemeinsamkeiten, etwa ähnliche rhythmische Konzepte: „Wenn man eine gemeinsame Basis hat, ist der Austausch leichter, als wenn sich Dinge gegenüber stehen, die einander völlig fremd ist.“

Zum Festivalauftakt am 5. Juli wird der Brasilianer Milton Nascimento zeigen, wie nachhaltig er seit den frühen 1970er die sogenannte Música Popular Brasileira beeinflusst hat, durch Anleihen bei angloamerikanischem Pop und Progrock, aber auch bei der klassischen Musik. Dieses Genre lässt sich weniger als Popmusik im engeren Sinne beschreiben, denn als Populärmusik, die im größten Land Südamerikas quer durch Altersgruppen und Schichten gehört wird.

Keine Thesen, sondern Fragen

Verglichen damit wirkt die vierköpfige Band Les Amazones d’Afrique (am 13. 7.) sehr gegenwärtig. Bei dem als Reaktion auf sexualisierter Gewalt entstandenen Projekt kommen zeitgenössische Elektronik und Traditionen aus Westafrika zusammen, der Klang der Kora, einer Stegharfe und das musikalische Erbe der Mandinka und Dahomey, zweier westafrikanischer Völker.

Auch die Folgen eines höchstoffiziell initiierten Kulturaustauschs werden Thema sein. 1964 lud die Regierung Kubas zehn junge Leute aus Mali zu einer musikalischen Ausbildung ein. Die Teilnehmer des Programms waren so angetan von den lateinamerikanischen Rhythmen, dass sie als Ensemble Maravillas de Mali ihren westafrikanischen Background mit Rumba und Cha-Cha-Einflüssen zusammenbrachten – was sowohl in Kuba als auch in Mali sehr gut ankam.

Der malische Militärputsch von 1968 beendete die Erfolgsgeschichte. Angeregt durch ein Filmprojekt führte Boncana Maïga, das einzig noch lebende Mitglied der Originalband, das Projekt in die Gegenwart. Zusammen mit kubanischen und westafrikanischen Musikern nahm er 2018 eine EP auf, die sie am 12. 7. vorstellen werden.

2004, noch bevor es „Wassermusik“ gab, war Black Atlantic bereits einmal Thema im HKW, damals in Gestalt einer multidisziplinären Ausstellung, die künstlerisch auf Gilroys Thesen antwortete. Weil das Festival musikalisch weiterführt, was bereits 2004 angestoßen wurde, trägt das Festival den Zusatz „revisited“ im Titel.

Und bietet neben Musik und Film auch eine theoretische Konferenz: „Echoes of the South Atlantic“, ein über mehrere Jahre angelegtes Forschungsprojekt des Goethe-Instituts wird auf Einladung des Festivals am 10. und 11. Juli im HKW konferieren, die Öffentlichkeit ist willkommen.

Keynote-Speaker ist übrigens Paul Gilroy – seinen Vortrag trägt den leicht provokanten Titel „The End of the Black Atlantic?“ Diedrichsen freut sich auf eine vielstimmige Diskussion: „Wir stellen keine Thesen auf, sondern fragen eher: „Was hat sich seit 1993 geändert“? Es gehe vor allem darum, nachzuhorchen.

Inwiefern das Besondere des Black Atlantics auch in Zukunft erhalten bleibt, ob etwa die gemeinsame Geschichte auch im Zeitalter der Internets transkontinentaler Bezugspunkt bleibt, ist tatsächlich eine spannende Frage. Schließlich bieten sich mittlerweile hinsichtlich der Vernetzung von geografisch weit auseinanderliegenden Kulturen ganz neue Möglichkeiten.

Doch in erster Linie geht es bei „Wassermusik“ auch darum, zu feiern, was schon da ist – und über Jahrhunderte um den Atlantik herum entstanden ist.

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