: Wahlverlierer: Migranten
Der Verein „Mehr Demokratie“ hat ausgerechnet: Bei einem Personenwahlrecht hätten es viel mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die Bürgerschaft geschafft
Von Lotta Drügemöller
Die Initiative „Mehr Demokratie“ hat aus ihrer Sicht auf die Bürgerschaftsergebnisse geschaut und die Auswirkungen des neuen Wahlrechts mit jenem von 2015 und ihrem eigenen Vorschlag zur „reinen Personenwahl“ verglichen. Anders als von den meisten Parteien vermutet, schwächt das Personenwahlrecht demnach nicht die Mitwirkungschancen von Minderheiten – im Gegenteil: Doppelt so viele Menschen mit Migrationshintergrund wären damit in die Bürgerschaft eingezogen.
Das Bremer Wahlrecht hat schon ein paar Volten hinter sich. 2007 wurde noch mit einer Stimme gewählt, seit 2011 gibt es für jeden fünf Stimmen und auch schon für 16-Jährige die Möglichkeit zu wählen. Nach der Wahl 2015 wurde das System noch einmal geändert – durch eine andere Reihenfolge in der Sitzverteilung wurde die Liste gegenüber den Personenstimmen gestärkt. Quasi als Gegenentwurf zu diesem Zurückrudern von der Personenwahl hatte der Bremer Verein „Mehr Demokratie“ Ende 2018 ein Volksbegehren für eine „reine Personenwahl“ angestrengt – erfolglos.
Sinn aller in der Vergangenheit gemachten Vorschläge und Änderungen sollte immer ein möglichst gerechtes, inklusives, demokratisches Wahlsystem sein. Die Frage ist nur, was das jeweils bedeutet – in Theorie und Praxis.
„Mehr Demokratie“ bevorzugt ein System, in dem WählerInnen möglichst viel mitbestimmen können. Je mehr KandidatInnen über Personenstimmen in die Bürgerschaft ziehen, desto besser, so die Logik. „Wähler sollten die Chance haben, mitzuentscheiden, wer am Ende in der Bürgerschaft sitzt“, so Tim Weber von „Mehr Demokratie“. PolitikerInnen, die das anders sehen, so deutet er zumindest an, wollten in vielen Fällen einfach ihre Pfründe sichern.
Im neuen Wahlrecht, das die Bürgerschaft 2018 beschlossen hat, sind Personenstimmen zwar weiterhin möglich, insgesamt ziehen aber mehr KandidatInnen über die Parteilisten ein. Dass das nicht nur in der Theorie stimmt, zeigt der Vergleich: Von den KandidatInnen mit einem unsicheren Listenplatz haben 2015 noch 22 einen Sitz in der Bürgerschaft bekommen; 2019, nach dem neuen Wahlrecht, waren es nur noch sieben.
Dass durch das neue Wahlrecht die Möglichkeit der WählerInnen sinkt, Einfluss auf die Besetzung der Bürgerschaft zu nehmen, war bekannt und von den Parteien mit guten Gründen gewollt: Die Ergebnisse vergangener Wahlen schienen zu zeigen, dass das Wahlrecht bestimmte VolksvertreterInnen benachteiligte. 2015 waren von 30 gewählten Abgeordneten in Bremen nur noch neun Frauen.
Von der Personenwahl, so die Befürchtung, profitierten vor allem Männer ab 45. Wer finanzielle Mittel habe, um sich bekannt zu machen, sei im Vorteil gegenüber anderen. Mit einem reinen Personenwahlrecht, so die Überlegung, würde dieses Problem sogar verschärft: „Das von ihr [der Initiative „Mehr Demokratie“] angestrebte Wahlrecht erschwert bestimmten Bevölkerungsgruppen die Repräsentanz und Mitwirkung im politischen System, und zwar in erster Linie denen, die es ohnehin schwerer haben, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen“, heißt es in einem Positionspapier der SPD-Landesvorsitzenden Sascha Aulepp.
Der Vorwurf stimmt allerdings zumindest für die Wahl 2019 nicht oder nur teilweise. Tatsächlich wären Frauen nach dem Personenstimmensystem leicht benachteiligt worden – statt 29 hätten es nur mehr 28 ins Landesparlament geschafft. „Unserer Ansicht nach ist der Unterschied aber so gering, dass hier keine weitere strukturelle Diskriminierung von Frauen vorliegt“, so Katrin Tober von „Mehr Demokratie“. Jüngere KandidatInnen wie auch solche über 60 stünden dagegen leicht besser da als zuvor: Sie gewännen einen, beziehungsweise zwei Sitze.
Vor allem in einer Kategorie bildet das Personenwahlrecht die gesellschaftlichen Verhältnisse aber deutlich besser ab als das aktuelle System: 2019 haben es nur neun Menschen mit Migrationshintergrund in die Bürgerschaft geschafft. 2015, nach dem alten Wahlrecht, waren es noch 15. Und nach dem Personenwahlrecht von „Mehr Demokratie“ wären es ganze 18 geworden – 23,8 Prozent der Abgeordneten. Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund liegt in Bremen bei 32 Prozent. „Ich finde, unser Vorschlag hätte dieses Verhältnis total angemessen gespiegelt. Jetzt fällt das hintenüber“, so Weber.
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