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die gruselige frau von CORINNA STEGEMANN

Seit ein paar Wochen wohnt sie im Haus gegenüber: die gruselige Frau. Es wäre ja auch zu schön gewesen, eine gemütliche Wohnung zu bewohnen, nette Nachbarn und keinen Stress mit den Vermietern zu haben – also eben angenehm zu wohnen. So war es bisher, doch damit ist es nun vorbei, denn die gruselige Frau ist aufgetaucht, ich nehme jedenfalls an, dass es eine Frau ist.

Vom Körperbau und vom Gesicht allein kann man zwar nicht darauf schließen, doch die Frisur deutet darauf hin. Die gruselige Frau also hat ihre Wohnung genau gegenüber auf der anderen Seite unserer sehr kleinen Straße, ein Stockwerk höher, und sie terrorisiert mich. Genau alle 30 Minuten tritt sie auf ihren Balkon hinaus und starrt in mein Wohnzimmer. Beobachtet mich. Dabei raucht sie und wischt sich die Spaghettihaare aus dem Gesicht. Und stiert mich an. Genau sieben Minuten lang geht das so, dann habe ich wieder für eine halbe Stunde Ruhe.

Selbstverständlich bräuchte ich jetzt Gardinen oder Vorhänge, aber ich mag so etwas nicht und weiß auch nicht, wie man das anbringt. Gerade jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, steht sie wieder da und raucht und starrt herüber. Es ist zum Verrücktwerden, kann sie sich denn keinen Stuhl kaufen, sich zum Rauchen mal gemütlich hinsetzen oder einfach mal nur woandershin starren? Kann sie offensichtlich nicht, sie will ja wissen, was ich so den ganzen Abend treibe, ob ich schreibe, ob ich Besuch habe oder ob ich nicht zu Hause bin, das interessiert sie!

Sicher hat sie schon stapelweise Protokolle und Akten über mich angefertigt, sicher ist sie von „Denen“ beauftragt, mich auszuspionieren. Ein altes Indianersprichwort heißt: Wenn man weiß, dass man paranoid ist, heißt das ja noch lange nicht, dass man nicht wirklich verfolgt wird.

Vor zwei Wochen habe ich angefangen, die gruselige Frau auszutricksen: Da ich nach ihren Starr-Attacken mittlerweile die Uhr stellen kann, bin ich auf die Idee gekommen, kurz vorher das Wohnzimmer zu verlassen und irgendetwas im Schlafzimmer, im Bad oder in der Küche zu erledigen, was eh erledigt werden muss. Auf diese Weise ist es mir tatsächlich über eine Woche lang gelungen, der gruseligen Frau fast vollständig aus dem Weg zu gehen. Diese Lebensweise war zwar anfänglich etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich konnte mich durchaus damit arrangieren. Alles schien gut, und ich fühlte mich wieder frei und entspannt.

Doch hatte ich nicht mit der Raffinesse der gruseligen Frau gerechnet, ich habe ihre Bosheit und ihren Ehrgeiz unterschätzt. Denn vor zwei Tagen hat sie sich Verstärkung geholt. Eine zweite gruselige Frau ist nun bei ihr zu Besuch und beide rauchen und starren jetzt herüber … – abwechselnd! Wobei die gruselige Freundin der gruseligen Frau in völlig unberechenbaren Abständen auftaucht. Dagegen kann ich mich nicht mehr wehren, ich habe aufgegeben. Sollen sie halt dort stehen, rauchen und herüberstarren, Protokolle und Akten anfertigen und an meinem aufregenden Leben teilhaben – ich kann es nicht ändern.

Und wenn ich mal eines Tages verschwunden bin, dann wissen Sie, liebe Leser, jetzt, dass „die“ mich abgeholt haben.

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