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Was zusammenkam

Migration als Krise? Nein, große Reiche entstanden durch Migration

Jacqueline Bhabha: „Migration als Krise?“ Hamburger Edition, Hamburg 2019, 160 Seiten, 12 Euro

Von Rudolf Walther

Was Migration und Flucht betrifft, ist die Lage weltweit gesehen ein Paradox. Dort, wohin die wenigsten Flüchtlinge und Migranten den Weg finden – nämlich nach Europa –, spielen Flucht und Migration politisch und medial eine überragende Rolle. Die US-amerikanische Professorin und Anwältin Jacqueline Bhabha sieht in der Migration keine Krise, sondern eine Chance für den Norden, „kollektive Verantwortung“ zu zeigen. Sie beruft sich dabei auf den ursprünglichen Sinn von „Krise“. Im Chinesischen wie im Altgriechischen bedeutete „Krise“ „Gefahr“ und „Chance“ zugleich. Das Wort „Krisis“ gehört im Griechischen zu den zentralen politischen Begriffen im Sinne von „Scheidung“, „Entscheidung“ und „Streit“, fand aber auch Eingang in die Medizin. Die „Krisis“ einer Krankheit ist beim griechischen Arzt Galen der Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, ob ein Kranker überlebt oder stirbt.

Jacqueline Bhabha begreift Migration als Normalfall. In den 1.000 Jahren zwischen dem 5. Jahrhundert vor Chr. und dem 5. Jahrhundert nach Chr. entstanden große Reiche zwischen China und Rom durch Migration – freilich nicht ohne Spannungen. Der römische Dichter Vergil (70 v. Chr. – 19 v. Chr.) sah die Landung von Flüchtlingen aus Troja in Italien verbunden mit „entsetzlichen Kriegen“, die „den Tiber vom Blut der Gefallenen schäumen“ ließen (Aeneis 6, 86 f.). Fast 2.000 Jahre später berief sich der Altphilologe und konservative britische Politiker Enoch ­Powell auf diese Vergil-Verse, um am 20. 4. 1968 gegen Ausländer und Flüchtlinge zu hetzen, was ihn sofort seinen Platz im Schattenkabinett von Edward Heath kostete – im Gegensatz zur Rede des deutschen Innenministers Horst Seehofer, der 2016 humanitäres Handeln für Flüchtlinge als „Herrschaft des Unrechts“ denunzierte.

Die Hochzeit der modernen Migration fällt in die Jahre zwischen 1850 und 1930 und führte dazu, dass fast alle Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts Einwanderungsgesetze erließen und die Kontrolle an den Grenzen verschärften. Migrationsbewegungen – freiwillige, aus wirtschaftlicher Not oder politischen Entscheidungen erzwungene wie der Bevölkerungsaustausch zwischen Indien und Pakistan 1947, der eine Million Tote forderte und 15 Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte – verschwanden nicht. Auf die Frage, welche „historischen Lehren“ aus der Migrationsgeschichte zu ziehen sind, findet die Autorin die politisch-moralische Antwort, dass „die Geschichte des globalen Austauschs“ unser „normatives Erbe geformt“ habe und uns „lenken“ sollte „zu nicht diskriminierendem Verhalten“. Alle großen Religionen fordern unisono eine „uneingeschränkte Gastfreundschaft“ und Kant begründete mit seiner Rechtsphilosophie zwar kein Weltbürgerrecht, aber immerhin ein Besuchsrecht für Menschen auf der ganzen Welt.

So eindeutig die normativen moralisch-politischen Grundsätze zugunsten von Migranten und Flüchtlingen ausfallen, so abwertend sind die politischen Praktiken ihnen gegenüber. Die Autorin sieht sie als „Opfer eines Systems der radikalen globalen Ungleichheit“, das „Verzweiflungs- und Überlebensemigranten“ mit „Lagerleben“ bestraft – im Durchschnitt über 20 Jahre lang! Im letzten Abschnitt ihres anregenden Essays plädiert die Autorin für einen ethischen Minimalstandard – nämlich „in einem Maß zu helfen, das uns nicht überfordert“. Das beginnt mit Bildungs- und Arbeitschancen.Wirksame Migrationspolitik müsste bei der Beseitigung von Fluchtursachen beginnen. Ein gediegenes Büchlein gegen das Stammtischgerede.

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