Roman „Apoll Besobrasow“: Gelage und Erleuchtungen
Junge Leute, heimatlos, auf der Suche nach inspirierter Künstlerarmut und Bohemeromantik: Boris Poplawskis Roman „Apoll Besobrasow“.
Es genügt, dieses merkwürdige und schöne Buch an einer fast beliebigen Stelle aufzuschlagen, um von der Qualität seiner symbolistisch-surrealistischen Sprachmusik geradezu körperlich getroffen zu werden: „Bei trübem Wetter fing der Tag in Besobrasows Zimmer gar nicht erst an; nur ein blasses Leuchten drang wie durch tiefes Wasser herein. Und wenn dichter Schnee aufs Dachfenster fiel, wurde es drinnen Nacht. Hin und wieder stieg einer von uns auf einen Stuhl, der auf den Tisch gestellt war, kippte das Fenster, um es von der Schneeschicht zu befreien, und sah sich einen Augenblick um, wie der Kapitän eines aufgetauchten U-Boots. So weit das Auge reichte, breiteten sich in geometrisch geformten Wellen die Dachschrägen, Simse und Steilwände schmaler, hoher mittelalterlicher Häuser aus – und dann tauchte das Boot wieder unter, und es war still darin zur Stunde des Schnees.“
Boris Poplawskis Roman „Apoll Besobrasow“ spielt in Paris und ist während der zwanziger Jahre dort entstanden. Die französische Hauptstadt der surrealistischen Periode ist seine geheime Hauptfigur. Die russischen Symbolisten, Suprematisten und Futuristen Moskaus und St. Petersburgs waren nach der Oktoberrevolution zunächst ins georgische Tiflis und ins belarussische Witebsk ausgewichen. Als sich nach dem Bürgerkrieg die Situation weiter verdüsterte, zogen sie notgedrungen ins Ausland – nach Berlin wie Nabokov oder nach Paris wie die meisten anderen.
Auf Montmartre und in Ménilmontant traf die kulturelle Elite des vorbolschwistischen Russlands auf den Surrealismus André Bretons und Louis Aragons. Einer von diesen beeindruckbaren und begabten jungen Russen war Boris Poplawski. Er entstammte dem polnisch-litauisch-baltischen Adel. Beide Eltern waren begabte Musiker, sein Vater als Kaufmann in St. Petersburg wohlhabend geworden. Gegen genau solche Menschen richtete sich der frühe bolschewistische Terror.
Nach einer jahrelangen Irrfahrt seiner Familie durch Charkow, Rostow, Istanbul, Berlin und Marseille kam der noch sehr junge Mann nach Paris, wo er sich der Entourage des georgischen Futuristen Ilja Sdanewitsch anschloss. Er ersetzte die Malerei, seine erste künstlerische Obsession, durch die Literatur. Ein kurzes Leben in inspirierter Künstlerarmut, klassische Bohemeromantik. 1935 starb Poplawski 32-jährig an einer Überdosis irgendeiner Droge.
Durch die Großstadt treiben
Sein Roman „Apoll Besobrasow“ weist eine große Familienähnlichkeit zu den surrealistischen Klassikern der Entstehungszeit auf, vor allem zu Louis Aragons Meisterwerk „Le paysan de Paris“. Man wüsste auch gern, ob Walter Benjamin, der sich gleichzeitig mit Poplawski in Paris aufhielt und ein glühender Fan des frühen, surrealistischen Aragon war, die wenigen Auszüge des Romans gekannt hat, die zu Poplawskis Lebenszeit erschienen sind (kursorische Internetrecherchen ergaben darüber nichts). „Apoll Besobrasow“ ist jedenfalls erst nach 1990 vollständig erschienen.
Der Roman ist einerseits eine symbolistisch-surrealistische Stadtphantasmagorie – und zugleich ein Soziogramm entwurzelter junger Russen, die sich unter prekärsten Bedingungen aneinander festhalten und ein „inneres Avantgarde-Russland“ rekonstruieren. Das Buch war, wie Poplawski schrieb, der „Versuch, unser Leben zu rechtfertigen, dieses reiche, geheime, so ungemein rührende und bedeutsame und zugleich so miserable Leben“. Es passiert in ihm so gut wie nichts – ohne dass Handlung im traditionellen Sinn dem Leser einen Moment lang fehlen würde. Man wird für sie mehr als entschädigt durch das sprachliche Feuerwerk, das Poplawski aus jeder Seite mit beiläufiger Virtuosität aufsteigen lässt.
Die Figuren treiben durch die Großstadtstraßen, frieren in ungeheizten Zimmern, führen endlose Gespräche, besetzen leerstehende Häuser, treffen sich zu ekstatischen Gelagen und „Bällen“, verlieren sich wieder aus den Augen. Leeres Zentrum und unbewegter Beweger dieses Kreises ist der titelgebende Apoll Besobrasow. Er ist einerseits eine modernistische Version einer traditionellen russischen Figur: Er ist ein „Narr in Christo“. In der alten orthodoxen Tradition waren die verrückten Heiligen so etwas wie christliche Zen-Meister, die dem Zaren wie dem Volk unangenehme Wahrheiten sagen durften, weil ihre Exzentrizität sie unangreifbar machte. Literarisch sublimiert bevölkern zahlreiche Narren in Christo die Romane, Versepen und Dramen Puschkins, Gogols, Leskows, Dostojewskis und Tschechows.
Andererseits ist „Besobrasow“ auch ein sprechender Name. „Besobrasny“ ist das russische Wort für „hässlich“. Auf einer tieferen etymologischen Ebene bedeutet dieser Name jedoch zugleich die Form- und Bildlosigkeit, eine Eigenschaft des Göttlichen. „Besobrasow“ (ungefähr: „der Bild- und Formlose“) ist im sprachlichen Assoziationshorizont des Russischen das „Apeiron“, der unbegrenzt-formlose Urstoff, den der vorsokratische ionische Naturphilosoph Anaximander postuliert hat.
Unaufhörliche Suche nach Offenbarungen
Die sprezzatura des Boheme-Dandys funktioniert als modernistische Erscheinungsform eines Absoluten. Andere Figuren heißen Zeus oder Averroës, die weibliche Hauptperson Thérèse trägt den Namen gleich zweier großer Mystikerinnen. Die theosophischen Neigungen von Poplawskis Mutter haben in seinem Roman ebenso deutliche Spuren hinterlassen wie der Unterstrom okkulter Spekulation, der besonders die russischen Versionen der Moderne spätestens seit Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst“ prägt.
Die profane Erleuchtung, die einem dieses Buch verschaffen kann, geht aber nicht von solchen Andeutungen und Spekulationen aus, sondern von der fast schockierenden Qualität und Originalität seiner stilistischen und imaginativen Erfindungen. Olga Radetzkajas Übersetzung ist es gelungen, das ästhetische Niveau des russischen Ursprungstexts in einem plausiblen Deutsch nachvollziehbar zu machen.
„Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang“, heißt es in einem Essay von Jorge Luis Borges, einem Zeitgenossen Poplawskis und einem südamerikanischen fellow traveller desselben von Baudelaire, Mallarmé und Verlaine beinflussten Modernismus, der auch Poplawskis Schreiben geprägt hat. Die unaufhörliche Suche nach solchen Offenbarungen ist die Sinnbewegung und die eigentliche Handlung in „Apoll Besobrasow“. Sie treibt das „geheime Leben“ an, das der formlose Held und seine Freunde in Paris führen.
Boris Poplawski: „Apoll Besobrasow“. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Guggolz, Berlin 2019, 299 Seiten, 24 Euro
Jene profanen Epiphanien und Prophetien verstecken sich in möblierten Zimmern, in heruntergekommenen Kneipen, im Rausch, in leeren herbstlichen Straßen, in vernachlässigten Parks, wo sie Louis Aragon mit seinem „Paysan de Paris“ aufspürte. Oder in den Kindheitserinnerungen und Passagen, wo sie Walter Benjamin mit seiner „Berliner Kindheit“ gesucht und (verkleidet in eine häretische Form marxistischer Analyse) in seinem fragmentarischen „Passagenwerk“ gefunden hat. Säkularisierte Mystik war der Kern einer symbolistisch-futuristisch-surrealistischen Mischkultur, die in den zwanziger Jahren im Schatten der Oktoberrevolution an so verschiedenen Orten wie Berlin, Paris, Buenos Aires, Witebsk und Tiflis ein starkes Jahrzehnt lang blühte. Boris Poplawskis „Apoll Besobrasow“ ist ein – jetzt glücklicherweise auch auf Deutsch wiederaufgetauchter – Klassiker dieser ästhetischen Geheimreligion.
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