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Experten des Alltags

Beim „Festival der internationalen neuen Dramatik“ an der Schaubühne sind eine freie Dokumentartheatergruppe aus China und chilenische Mädchen zu sehen, die sich nicht mehr den Mund verbieten lassen wollen

Raul ist jetzt ein Mann, hat aber noch nicht den Körper, den er braucht Foto: Emilia Stéfani-Law

Von Katja Kollmann

„Ich habe gelernt, dass im Prinzip jeder auf einer Bühne stehen kann“, bringt es He Yanpeng, 56 Jahre alt, auf den Punkt. Li Janjun, Leiter der Pekinger „New Youth Group“, erzählt von Workshops mit „Experten des Alltags“, in denen sich die Diversität der Teilnehmer manifestierte und zur Grundlage von „Popular Mechanics“ wurde. Zwölf Stühle verlieren sich auf der großen Bühne der Schaubühne, durch zwei riesige, auf dem Bühnenboden liegende Scheinwerfer bestrahlt. Dann nehmen dort Platz: ein Schweißer, ein Tänzer, eine Verlegerin, ein Mathematiker, ein Hotelmanager, eine Starbucks-Mitarbeiterin, ein Investmentbanker, ein ehemaliger Profifußballtrainer, ein Rentner, eine Rentnerin und eine junge Frau Mitte dreißig, die ihre Jobs oft wechselte.

Im Laufe von zwei Stunden erzählt jeder, in welcher Situation er am besten „spielt“, und performt dann einen Bühnentext oder eine Filmszene, die er selbst ausgewählt hat. So werden Olgas Gedanken über den Sinn des Lebens (Drei Schwestern) ergänzt durch Ninas Hymne auf das Schauspielen an sich (Die Möwe). He Yanpeng wiederum performt einen Ausschnitt aus dem Film „Lenin 1918“. Shan Wancheng, 64 Jahre alt, singt ein Lied über das winterliche Moskau. Sun Yunezing singt auch – ein Lied aus dem Musicalfilm „La La Land“. Es findet eine sehr besondere Aneignung all dieser Texte statt. Sie werden neu hörbar durch den radikalen persönlichen Bezug zum Vortragenden und durch die Herauslösung aus dem Werkkontext. Es entsteht ein Gewebe von sprachlichen Bildern, die in Verbindung mit der jeweiligen Körpersprache viel über die Menschen auf der Bühne erzählen.

„The Youth Group“ ist eine der wenigen freien Dokumentartheatergruppen in China. „Popular Mechanics“ ist die erste chinesische Produktion bei einer Ausgabe des FIND, dem „Festival der internationalen neuen Dramatik“ an der Schaubühne, das am 14. April enden wird. Sie ist ganz besonders eine Hymne an das Schauspielen überhaupt: ausgehend von der beeindruckenden Bühnenpräsenz der Darsteller bis zu den ehrlichen, humorvollen Statements, wo und wie jeder seine beste schauspielerische Leistung erbracht hat: „Unter der Dusche, weil ich ohne Zuschauer am besten spiele.“ Oder: „Beim Chef, als ich ihn anlügen musste, um zum Casting zu gehen.“

Auf derselben Bühne steht an einem anderen FIND-Abend am linken Bühnenrand ein filigranes rosa angemaltes Häuschen. Der Rest der Bühne wird mit Leichtigkeit gefüllt von Ignacia, Sara, Paula, Daniela, Angelina, Matilde, Constanza, Rafalela und Arwen. Diese Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren aus Chile rocken die Schaubühne. „Hier sind neun, die nicht mehr unsichtbar sein wollen!“, schreien sie, „neun, denen man zuhören muss!“ Es ist das selbstbewusste Statement der jüngsten Generation von südamerikanischen Frauen in einer immer noch restriktiven patriarchalen Gesellschaft.

„Hier sind neun, die nicht mehr unsichtbar sein wollen!“, schreien sie

„El Teatro La Re-Sentida“ gibt ihnen in „Paisajes para no colorear“ eine gute Dramaturgie an die Hand und die passende Musik. So wird der Abend zu einem energiegeladenen Feuerwerk mit einer glasklaren, radikalen Forderung: die totale Freiheit der Frau. Es ist die Aussicht auf ein komplett angstfreies Leben als Frau in einer Gesellschaft beider Geschlechter. Totale Freiheit bedeutet zum Beispiel, als Frau in einem öffentlichen Raum lasziv zu tanzen, einfach weil sie Lust hat. Genau diese Szene, in der Ignacia tanzt und dies selbstbewusst einfordert, lässt den Abend in unserer Realität im Theater ankommen.

Diese neun Mädchen formulieren viel mehr als ein Manifest für eine komplett emanzipierte Gesellschaft, sie halten dieser Gesellschaft den Spiegel vor. So erinnern sie an die im vergangenen Jahr in staatlichen chilenischen Kinderheimen umgekommenen Kinder. Es waren über hundert. Die Mädchen zeigen die übliche Methode der Fixierung von renitenten Kindern – die Erzieherin setzt sich auf den Nacken des Kindes, was zum Tod durch Ersticken führen kann.

„TRANS“ (mes enlla)“ von Didier Ruiz aus Barcelona ist versöhnlicher. Auf der Bühne des Globe stehen sieben Menschen, die ihr Geschlecht gewechselt haben. Sie kommen abwechselnd hinter einen grauen Raumteiler hervor und erzählen ihre ganz persönliche Geschichte über die Erkenntnis, in dem Körper, den man von der Natur bekommen hat, nicht leben zu können. Raul ist zum Mann geworden, hat aber immer noch nicht den Körper, den er braucht. Und so stellt er gelassen die Option in den Raum, sich einfach so oft zu verändern, wie es nötig ist. So könnte man immer wieder abwechselnd Frau und Mann sein. Ein interessanter Gedanke, der therapeutische Auswirkungen auf die Gesellschaft haben könnte.

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