: Das Castorf-Kollektiv
Aus einer Underground-Performance in Neukölln wird eine Bühnenbesetzung in Karlshorst: Die einstigen Volksbühnen-BesetzerInnen des Nie-Kollektivs suchen ein Haus für ihre Theaterkunst
Von Tom Mustroph
Manchmal hat Theater eben doch noch Wirkung: Das Nie-Kollektiv aus Neukölln hat am Freitagabend im Rahmen einer mehrstündigen Performance im Stadtraum das ehemalige „Haus der Offiziere“ in Karlshorst zeitweilig besetzt. Die Aktion mit Elementen von Verschwörungsszenarien à la Thomas Pynchon wurde von zivilen Polizisten überwacht, ein uniformiertes Kommando intervenierte sogar. Noch lieber würde die Künstlergruppe, einst bei der Volksbühnen-Besetzung dabei, die früheren Räume der Schauspiel-Hochschule „Ernst Busch“ in Schöneweide übernehmen.
Begonnen hatte der Abend unter dem Titel „Aufstand der Huren“ in einem echten Underground-Setting: In einem Neuköllner Hinterhofkomplex, wo sich von der Berliner Kulturverwaltung geförderte Ateliers befinden und irgendwo ein knallroter VW-Käfer mit platten Reifen herumsteht, ging es über eine schmale Treppe in einen Keller. Man nahm sich ein Bier oder einen Wein, manche zündeten sich eine Zigarette an. Auf eine Leinwand war projiziert: „Beten für die Volksbühne, Saufen für die Volksbühne, Ficken für die Volksbühne“. Damit war klar: Hier handelte es sich um Künstler aus dem Kontext der Volksbühnen-Besetzung im Sommer 2017.
Die Performance begann dann auch in einer Art Bert-Neumann-Gedächtnis-Bühnenbild. Der mittlerweile verstorbene Raumkünstler stellte früher ganze Häuser und Stadtlandschaften auf die Drehbühne der Volksbühne – und einer der Neuköllner Kellerräume war mit menschengroßen Hochhaus-Modellen gefüllt, in die sich die Performer begaben, um Texte über die seelischen Zustände von Menschen im Spätkapitalismus vorzutragen. Dabei wurden sie gefilmt. Das Publikum sah per Livestream – auch im Internet abrufbar – den von der Kamera begrenzten Ausschnitt.
Das hatte Reiz. Manchmal schienen die Performer über die Häuser hinauszuwachsen, ein anderes mal wirkten sie eingepfercht. Alle Diskurse über die Stadt, die den Menschen formt, ihn einengt, ihn aber auch schützt und sozialisiert, waren beim Sehen und Hören anschlussfähig. Bespielt wurden mehrere Räume des Kellerkomplexes. Während das Publikum im Leinwand-Raum saß, so nah an der Toilette, dass man Stehpinklern von hinten zusehen konnte, huschten Kamerateams und Performer beständig über die Gänge.
Eingewoben in die Erzählungen war auch eine Episode über ein geheimes Geldbeschaffungskommando einer kommunistischen Kaderpartei. Deren Mitglieder gaben sich sadomasochistischen Träumereien hin und versuchten, sich Restbestände von Bürgerlichkeit wegzuexzorzieren. Das beständige Wegkippen der fiktionalen Ebenen erinnerte an die Erzählweise eines Thomas Pynchon.
Die ganz nah ans Kameraauge gerückten Gesichter der Performer wurden zu Ereignisstätten vielfältiger Seelenzustände. Untermalt wurde das Geschehen von den Klängen einer Live-Band, die ebenfalls im Kellerlabyrinth spielte.
Megalopolis Neukölln
Schließlich verließen einige Figuren den Untergrund und zogen, weiterhin begleitet von Kameras, durchs nächtliche Neukölln. Es überraschte zunächst, wie viel da glitzerte und blinkte, wie viele Erdgeschosszonen verglast sind und im Licht von Laternen und Autoscheinwerfern das Bild einer dystopischen Megalopolis zeichneten. Visuelle Maßstäbe für die nächsten Berlin-Krimis wurden gesetzt. Immer wieder fing die Kamera die Blicke verwunderter, amüsierter und auch erschreckter Passanten ein, die auf diese Art unversehens Teil des Schauspiels wurden. Solches Realitätshacking ist nicht neu, aber die Konsequenz, mit der das Nie-Kollektiv es betrieb, faszinierte.
Schließlich machte sogar die Polizei mit: Am S-Bahnhof Schöneweide griffen Streifenpolizisten ein und stoppten erst das Spiel und später den Livestream.
Währenddessen wurde in Neukölln ein Flixbus bereitgestellt, der das Publikum zum nächsten Handlungsort befördern sollte. Ein „Extrablatt“, das verteilt wurde, kündigte die Besetzung des früheren Sitzes der Schauspielschule „Ernst Busch“ in der Schnellerstraße und die Etablierung eines neuen Theaters dort an. Tatsächlich fuhr der Bus aber nach Karlshorst, ins dortige Theater, einst das „Haus der Offiziere“ der Roten Armee. Von innen wurde geöffnet, über dunkle Gänge erreichte man den mit ein paar Scheinwerfern provisorisch erhellten großen Saal. Eine echte Überraschung.
Die folgende Performance – etwas Gesang, eine Miniszene auf Russisch sowie eine Art Post-AgitProp mit einem auf Frank Castorf verweisenden „Eisenwaren“-Schild – fiel dann eher mäßig aus. Spannender war das Spiel ringsherum: Zivilpolizisten nahmen Kontakt mit Spielern und Publikum auf, fragten nach Sinn und Zweck der Aktion, griffen aber nicht ein. Sie schickten allerdings einen Wagen in die Schnellerstraße. Was dort passierte, wollten auf Nachfrage von taz weder die Organisatoren noch die Polizei mitteilen. Einige Zuschauer hatten die Zivilpolisten nach eigener Aussage schon im Neuköllner Keller beobachtet. „Aufstand der Huren“ war damit wohl der deutsche Theaterabend mit dem bislang umfangreichsten Polizeieinsatz des 21. Jahrhunderts.
Tatsache ist: Das Nie-Kollektiv möchte die ehemaligen Ernst-Busch-Räume ganz offiziell als Produktionsort übernehmen. In der Senatskulturverwaltung hat man allerdings andere Vorstellungen: „Wir beabsichtigen, nach den notwendigen Umbauarbeiten hier einen zweiten Standort des Probenhauses Mitte einzurichten“, so Staatssekretär Torsten Wöhlert zur taz. Das Probenhaus bietet darstellenden Künstlern Probenräume für wenig Geld.
Bei aller Liebe für Infrastrukturen: Wäre es nicht besser, einem knapp 70-köpfigen Ensemble, das Mut zu neuen szenischen Formaten bewiesen hat, logistische Kompetenz besitzt (der Flixbus-Charter für die Besetzung war genial) und auf solidem handwerklichem Niveau agiert, die Räume zu geben? Wenn es gut läuft, könnte hier jene genreübergreifende Verschmelzung von Kunstformen gelingen, die Chris Dercons Volksbühne versprach. Nur eben mit einem Ensemble von Spielern und Technikern, Textern, Musikern und Filmern, die tatsächlich miteinander „können“.
Vielleicht wird „Aufstand der Huren“ so etwas sein wie einst Frank Castorfs „Das trunkene Schiff“: Mit dieser Inszenierung brachte er sich 1988 als geeigneter Kaperkapitän für das damalige Himmelfahrtskommando Volksbühne ins Spiel. Echte Erneuerung geschieht immer von unten.
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