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Handbuch gegen Hetzer und Scharfmacher

Die US-Professorin Jacqueline Bhabha begreift in „Migration als Krise?“ Flüchtlingsbewegungen als Normalfall und fordert ethische Minimalstandards

Jacqueline Bhabha: „Migration als Krise? Wie ein Umdenken möglich ist“, aus dem Englischen von Ursel Schäfer. Hamburger Edition, Hamburg 2019, 143 S., 12 Euro

Von Rudolf Walther

Was Migration und Flucht betrifft, ist die Lage weltweit gesehen ein einziges Paradox. Dort, wohin insgesamt die wenigsten Flüchtlinge und Migranten den Weg finden – nämlich nach Europa –, spielen Flucht und Migration politisch und medial eine überragende Rolle. Konservative Medien und populistisch-fremdenfeindliche Bewegungen und Parteien beschreiben diese Schieflage mit dem Wort „Migrationskrise“ – in deren Diktion ein Synonym für „Katastrophe“ –, obwohl die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge nicht einmal die Küsten Europas zu sehen bekommt. Die Bundesrepublik hat als „Gewissen Europas“ eine Million Flüchtlinge aufgenommen – von weltweit über 20 Millionen. Aber auch hier erzeugte diese humanitäre Selbstverständlichkeit eine rüde fremdenfeindliche Front von Pegida/AfD über Bild bis in die Salons der notorisch „klugen Köpfe“.

Die amerikanische Professorin und Anwältin Jacqueline Bhabha sieht in der Migration keine Krise oder gar Katastrophe, sondern eine Chance für den Norden, „kollektive Verantwortung“ zu zeigen. Sie beruft sich in ihrem Essay „Migration als Krise? Wie ein Umdenken möglich ist“ auf den ursprünglichen Sinn des Worts „Krise“. Im Chinesischen wie im Altgriechischen bedeutete „Krise“ eigentlich „Gefahr“ und „Chance“ zugleich. Das Wort „Krisis“ gehört im Griechischen zu den zentralen politischen Begriffen im Sinne von „Scheidung“, „Entscheidung“ und „Streit“, fand aber auch Eingang in die Medizin. Die „Krisis“ einer Krankheit ist beim griechischen Arzt Galen der Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, ob ein Kranker überlebt oder stirbt.

Jacqueline Bhabha begreift Migration nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall. Migration führte nach der These von Jared Diamond nur dort zu Bedrohungen, wo die Flüchtenden „überlegene technische Fähigkeiten oder unbekannte Keime mitbrachten“. In den 1.000 Jahren zwischen dem 5. Jahrhundert vor Chr. und dem 5. Jahrhundert nach Chr. entstanden große Reiche zwischen China und Rom durch Migration – freilich nicht ohne Spannungen. Der römische Dichter Vergil (70 v. Chr.–19 v. Chr.) sah die Landung von Flüchtlingen aus Troja in Italien verbunden mit „entsetzlichen Kriegen“, die „den Tiber vom Blut der Gefallenen schäumen“ ließen ­(Aeneis). Fast 2.000 Jahre später berief sich der gelehrte Altphilologe und konservative britische Politiker Enoch Powell (1912–1998) auf diese Vergil-Verse, um im April 1968 gegen Ausländer und Flüchtlinge zu hetzen, was ihn sofort seinen Platz im Schattenkabinett von Edward Heath kostete – im Gegensatz zur Rede des deutschen Innenministers und Amateur-Juristen Horst Seehofer, der 2016 humanitäres Handeln für Flüchtlinge als „Herrschaft des Unrechts“ denunzierte.

Die Hochzeit der frühen modernen Migration fällt in die Jahre zwischen 1850 bis 1930 und führte dazu, dass fast alle Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts Einwanderungsgesetze erließen und die Kontrolle an den Grenzen verschärften. Migrationsbewegungen – freiwillige, aus wirtschaftlicher Not oder politischen Entscheidungen erzwungene wie der Bevölkerungsaustausch zwischen Indien und Pakistan 1947, der eine Million Tote forderte und etwa 15 Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte – verschwanden nicht.

Auf die Frage, welche „historischen Lehren“ aus der Migrationsgeschichte zu ziehen sind, findet die Autorin die politisch-moralische Antwort, dass „die Geschichte des globalen Austauschs unser „normatives Erbe geformt“ habe und „nicht diskriminierendes Verhalten“ lehren sollte. Alle großen Religionen fordern unisono eine „uneingeschränkte Gastfreundschaft“, und Kant begründete mit seiner Rechtsphilosophie zwar kein Weltbürgerrecht, aber immerhin ein Besuchsrecht für Menschen auf der ganzen Welt.

So eindeutig die normativen moralisch-politischen Grundsätze zugunsten von Migranten und Flüchtlingen ausfallen, so abwertend sind die politischen Praktiken ihnen gegenüber. Touristen reisten weltweit fast unbehelligt – „sicher, legal und regelmäßig“, so Bhabha. Flüchtlinge und Migranten stießen dagegen bei jedem Schritt auf Schikanen niederträchtigster Art. Die Autorin sieht sie als „Opfer eines Systems der radikalen globalen Ungleichheit“, das die Migranten mit „Lagerleben“ bestrafe – im Durchschnitt über 20 Jahre lang, wie sie schreibt. Im letzten Abschnitt ihres anregenden Essays plädiert die Autorin für einen ethischen Minimalstandard – nämlich „in einem Maß zu helfen, das uns nicht überfordert“. Das beginnt mit Bildungs- und Arbeitschancen für die zum größten Teil jungen, armen, ungebildeten und unqualifizierten Migranten.

Wirksame Migrationspolitik müsste bei der Beseitigung von Fluchtursachen beginnen – also mit der Reduzierung von Kriegen und Konflikten, von humanitären Katastrophen, die mit dem Klimawandel zusammenhängen, sowie der weltweiten Ungleichheit und Armut. Ein gediegenes Büchlein gegen das Stammtischgerede.

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