Kurdische Künstlerin aus Haft entlassen: Malen mit Menstruationsblut
Zehra Doğan malte die kurdische Stadt Nusaybin im Belagerungszustand und musste deshalb ins Gefängnis. Ihr Fall wurde international bekannt.
Nach zwei Jahren im Gefängnis sitzt Zehra Doğan an einem kalten Wintertag Ende Februar in einem Café im Istanbuler Viertel Beyoğlu und erzählt mit glänzenden Augen. Unter der Lippe trägt sie ein Tattoo mit regionalen Motiven, wie man es bei älteren kurdischen Frauen häufiger sieht. Sie ist eine Frau, die an ihren Wurzeln festhält und diese der ganzen Welt zeigen will.
Als Journalistin gehörte Doğan zu den Gründerinnen von Jinha, der weltweit ersten Nachrichtenagentur, die ausschließlich von Frauen betrieben und inzwischen verboten wurde. Zugleich ist sie Malerin, deren Werke in der ganzen Welt ausgestellt werden.
Als das türkische Militär und kurdische Milizen sich in der kurdischen Stadt Nusaybin 2016 heftige Gefechte lieferten, „malte“ Doğan auf ihrem Mobiltelefon, weil Fotos verboten waren. Sie postete die Bilder in den sozialen Medien. Im Internet entdeckte sie ein Foto, auf dem die türkischen Sicherheitskräfte sich selbst inmitten der Ruinen der Stadt mit türkischen Fahnen inszenierten. Diese Szene malte sie nach.
Auch wegen dieses Wasserfarben-Bildes wurde Doğan am 23. Juli 2016 inhaftiert. Später wurde sie zu einer Haftstrafe von zwei Jahren, elf Monaten und 22 Tagen verurteilt, weil ihre Bilder und Postings von einem Gericht als „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ gewertet wurden.
Verurteilt wegen „Terrorpropaganda“
Als sie verurteilt wurde, sagte Doğan: „Ich male nur das, was ihr tut. Ich halte euch einen Spiegel vor.“ Sie kam ins Gefängnis von Mersin. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 platzten die Haftanstalten in der Türkei bald aus allen Nähten. Für das geschlossene Frauengefängnis Tarsus in Mersin bedeutete das konkret: Als die Tür zu der Zelle für 18 Personen aufging, begegnete Doğan 50 Frauen, einige hatten ihre Kinder dabei.
„Ich war völlig überrascht und wusste gar nicht, was ich tun soll“, sagt Doğan als sie von dem Moment berichtet, in dem sich die Eisentür vor ihr öffnete. Mit der Zeit verwandelte sich die Gefängniszelle für sie als Malerin in ein Atelier und als Journalistin in einen Ort der Beobachtung. Zunächst gab es Probleme mit der Anstaltsleitung, erzählt sie, weil man ihr kein Malwerkzeug geben wollte. Nach einer Weile habe sie resigniert. Doch dann hätten sich ihre Mitgefangenen für sie eingesetzt. Sie habe viel gelernt von ihren Mitgefangenen, erzählt sie: „Schweig nicht, hör nicht auf, auf deiner Forderung zu bestehen!“ Doğan hat darauf gehört. Und sie machte Kunst auch ohne den üblichen Künstlerinnenbedarf.
Zehra benutzte im Gefängnis Zeitungspapier, Stofffetzen oder auch Unterwäsche als Leinwand. Bekam sie keine Farben, stellte sie selbst welche her: Grün aus Salat-Blättern, Rot aus dem Menstruationsblut der gefangenen Frauen. „Ich habe in der Haft über 300 Bilder gemalt“, sagt Doğan.
Kontakt zur Außenwelt
Die meisten Bilder konnte sie nach draußen schaffen. Sie wanderten in den Metropolen der Welt von Ausstellung zu Ausstellung. Selbst der berühmte Streetart-Künstler Banksy wurde auf Zehra aufmerksam. Wer sich hinter Banksy verbirgt, weiß man nicht, doch Banksy weiß, wer Zehra Doğan ist. In New York malte er sie an eine Wand.
Die Welt lernte Doğan durch ihre Bilder kennen, die im Gefängnis geborene kleine Ayşe hingegen lernte die Welt mit den Bildern von Doğan kennen. Ayşes Mutter muss noch zwei Jahre absitzen. Mit ihren vier Jahren hat Ayşe nie etwas anderes gesehen als die Zelle und den Hof, doch unermüdlich fragte sie Doğan nach der Welt. Was ist ein Baum, eine Blume, was ist Gras, das Meer? Worte reichten nicht, um Ayşe ein Bild von der Natur zu geben, die sie noch nie gesehen hatte. Also malte Doğan das alles für sie. Als sich Ende Februar alle über Doğans Freilassung freuten, war Ayşe vermutlich traurig darüber.
Wie an der Malerei hielt Doğan auch an ihrem Journalistinnenberuf fest. Als die Zeitung Özgür Gündem, die nach dem Putschversuch per Dekret verboten wurde, nicht mehr in die Zelle kam, fertigten die Frauen in der Zelle selbst eine Zeitung an. Doğan nahm Papier und Stift in die Hand und arbeitete an dem Layout. Sie legte fest, wo die Texte stehen und wohin die Bilder kommen sollten, die sie anstelle von Fotos malen wollte. Ein Name für das Blatt musste her, und eine Redaktion. Dafür kamen Frauen zusammen, die gut schreiben konnten.
Ihre Zeitung nannten sie Özgür Gündem Zindan („Freie Tagesordnung der Zelle“). Es wurden Redaktionssitzungen abgehalten, Themen und Texte diskutiert. Auf den acht Seiten standen Interviews mit Frauen und Berichte über Rechtsverletzungen in Polizeigewahrsam und im Gefängnis. Die Frauen schrieben aber auch über Mal- und Lauten-Kurse im Gefängnis. Die 50 Frauen schleusten die Zeitung nach draußen. Sie glich mehr einem Kunstwerk als einer Zeitung und wurde mit Doğans Bildern im Ausland ausgestellt.
Die Freiheit fühlt sich komisch an
Als bekannt geworden war, dass die Zeitung ausgestellt wird, durchsuchten Vollzugsbeamtinnen die Zellen. Sie fanden aber nichts. Was haben sie gesucht? Zehra Doğan lacht, als sie berichtet, wie die Zelle nach einer Druckermaschine durchsucht wurde. Die Anstaltsleitung grübelte, wie es sein konnte, dass eine Druckermaschine in eine Zelle gelangt war, in der nicht einmal Malutensilien wie Pinsel und Farben erlaubt waren.
Die Zeit im Gefängnis ist nun vorüber, seit dem 24. Februar ist Doğan wieder frei. „Ich bin seit ein paar Tagen draußen“, sagt Doğan, „aber es fühlt sich komisch an.“ Wenn sie von den Frauen in der Zelle erzählt, klingt ihre Stimme sehnsüchtig. Doğan hat ihnen viel zu verdanken. Und sie hat große Pläne für die Zukunft. In der Türkei sitzen nach wie vor mehr als 130 Journalist*innen hinter Gittern. Doğan fühlt sich gegenüber jenen verpflichtet, die nach ihrer Entlassung weiter als Journalist*innen arbeiten: „Wären die nicht weiter in ihrem Beruf tätig gewesen, hätte niemand von mir und den anderen gefangenen Frauen erfahren!“
Mit Gemälden und Texten will Doğan der Türkei einen Spiegel vorhalten, will die Probleme und Sorgen der Frauen in der Türkei abbilden. Sie sagt, sie wird weiter Bilder von der Sorte malen, mit der ihre Haft in der ganzen Welt bekannt wurde. Ihr Buch mit Geschichten von den Frauen im Gefängnis und mit Bildern, die sie zu diesen Geschichten gemalt hat, ist schon fast fertig.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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