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Auf Stelzen durch den Schnee

In Bremen macht Alize Zandwijk aus Tolstois letzten Roman „Auferstehung“ einen meditativ ruhigen Theaterabend mit großen Fragen nach Gott und Politik – und surrealen Brüchen

Große Entschleunigung: Leise rieselt der Schnee und ganz allmählich merken die Aristok­rat*in­nen, dass die Party vorbei ist Fotos: Jörg Landsberg

Von Jan-Paul Koopmann

Es ist keine Sparmaßnahme des Bremer Theaters, dass sich der gediegene Fürstenlandsitz und ein sibirisches Straflager weitgehend dieselbe Kulisse teilen – und es hat auch nichts mit Einfallslosigkeit zu tun. Im Gegenteil: Thomas Ruperts Bühnenlandschaft aus geöltem Holz unten und pastelliger Verblassung nach oben ist so elegant, weil sie die doppelte Leere in einem einzigen Bild erzählt. Und sie ist genial, weil sie dabei den Widerspruch einer elenden Weite bewahrt – in der es unerträglich eng wird. Hier wie dort geht es in Tolstois „Auferstehung“ um die Zwänge des autoritären Zarenreichs kurz vor dem Zusammenbruch. Und ein bisschen geht es auch um die Liebe.

„Auferstehung“ ist der unbekannteste von Tolstois drei großen Romanen. „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ hatten ihn Jahre zuvor zum Star gemacht, als er 1899 dieses sonderbare Buch nachschob. In einer tiefen Krise steckte er da, umtrieben von anarchistischen Gedanken und Hoffnung auf auch religiöses Heil. In Bremen stand nun die Uraufführung von Armin Petras’Bühnenfassung an, dem damit ein Kunststück gelungen ist: die knapp 800 Seiten dermaßen aufs Wesentliche einzudampfen, dass Alize Zandwijks (dann doch: nur) dreistündige Inszenierung bereits wieder wie die große Entschleunigung wirkt. Leise rieselt der Schnee auf die sibirischen Weiten – und langsam merkt auch der Feudalismus, dass die Party längst zu Ende ist.

Präzise dosierte Emotionalität

Die Geschichte ist schnell erzählt: Als Geschworener vor Gericht sieht sich Fürst Nechljudow seiner Jugendliebe Katjuscha auf der Anklagebank gegenüber. Die ehemalige Dienstmagd ist heute Prostituierte und soll einen Freier vergiftet haben. Und während der geistig eher abwesende Justizapparat sie routiniert für schuldig befindet, beginnt der Fürst schließlich, die eigene Schuld an ihrem Abstieg zu begreifen. Reumütig kämpft er für die Revision, besucht sie mehrfach im Gefängnis, hält um ihre Hand an und reist ihr schließlich noch ins Lager nach Sibirien hinterher.

Wie wenig Petras’Kürzungseifer diesem meditativ ruhigen Theaterabend anzumerken ist, liegt zunächst an den extrem wandlungsfähigen Nebendarsteller*innen, die den Querschnitt durch die gesamte russische Klassengesellschaft in einem Guss gestemmt bekommen. Wirklich großartig aber sind die Hauptrollen: Fania Sorel und Manolo Bertling stehen sich in unrettbar verhärteter Konfrontation gegenüber und betasten einander in außerordentlich präzise dosierter Emotionalität. Sorel und Bertling geben beide für sich je alles, während Zandwijks Regie den Fokus langsam aber entschieden zu Katjuscha hin verlagert und Nechljudows ergreifend gespielter Sinnkrise schließlich die Ignoranz zukommen lässt, die sie tatsächlich auch verdient.

Zu Recht schuldig fühlt sich der Fürst, weil er Katjuscha erst geschwängert und dann vergessen hat. „Verführung“ nannten die Klappentexte das Geschehen früher – auf der Bremer Bühne ist der Akt zweifellos eine Vergewaltigung. Und man kann Tol­stoi heute trotz aller Ambivalenzen auch wirklich nicht mehr anders lesen.

Katjuscha sagt jedenfalls ungefähr dreimal „nein“ – je nachdem, welche Übersetzung man gerade in der Hand hält. In der ganz alten Fassung von Wilhelm Thal kommt der Akt überhaupt nicht vor, stattdessen nur ein Kleist’scher Gedankenstrich: Sie öffnet die Tür ihrer Kammer, er tritt ein – und kommt wieder heraus.

Surreale Ausbrüche

Als Nechljudow ihr im Buch später ein Kuvert mit Geld zusteckt, tut er das aus rührender Unsicherheit – weil der damals noch junge Student vermutet, das gehöre sich wohl so. Die Bühne spart sich dankenswerterweise die Empathie mit dem Täter: Hier fliegen die Rubelscheine Katjuscha wortwörtlich um die Ohren.

Ansonsten bleibt die Inszenierung auch formal nah an der Erzählung: In langen Monologen wird hier laut über die untergehende Welt nachgedacht, über kommende Revolutionen und über Gott. Umso schöner sind die Brüche, die zuverlässig aufreißen, wenn dann doch mal zwei auch miteinander reden. Eben noch hat Manolo Bertling als Nechljudow irgendwas getragen Selbstmitleidiges im Inneren bewegt – nur um ihr dann als geifernder Idiot fast ins Dekolleté zu sabbern als es ans Sprechen geht. Fabia Sorel bringt umgekehrt ergreifend zum Ausdruck, wie Katjuscha eine Handbreit unter der bloß wütenden Oberfläche eine tiefe Tragik bewegt.

Weit über die Gemeinen erhoben: Deniz Orta als Aristokratin mit Stelzen neben Dmitri Nechljudow (Manolo Bertling)

All das wäre nicht Zandwijk im Großen Haus, gäbe es nicht diese surrealen Ausbrüche. Da wächst ein gemalter Baum aus der Wandvertäfelung, die Türen ragen wie verzerrt meterhoch zur Decke. Zu Musik und Gesang von Beppe Costa und Nihan Devecioglu werden die Nebenrollen vom Menschen immer mehr zu den scheiternden Ideen, für die sie stehen. Mirjam Rast wird zum akrobatisch zuckenden Körperknäul, als sie sich buchstäblich um Nechljudow windet – Deniz Orta wirkt mal mit ausgestellter Hüfte wie gestaucht, erhebt sich dann als Aristokratie auf Stelzen tatsächlich weit über die Gemeinen hinaus.

Politik und religiöser Drive

Tolstoi schreibt besonders in diesem späten Roman, als wisse er alles über den Menschen. „Auferstehung“ sollte die Programmschrift werden für die gewaltfreie Revolution einer individuell-anarchistischen Christenheit. Die orthodoxe Kirche war nicht so angetan und warf ihn raus. Man muss sich damit heute nicht mehr lange aufhalten und kann es – wenn man möchte – wahrscheinlich auch abtun als Symptom der moralisch abgewirtschafteten Zarenzeit.

Zandwijk gelingt erstaunlicherweise beides: die großen politischen Menschheitsfragen zu verhandeln und trotzdem diesen religiösen Drive fühlbar zu machen. Diese Ostermesse, nach der Nechludoff ein Vergewaltiger ist und die trotzdem „auf ewig eine der süßesten und stärksten Erinnerungen seines Lebens“ bleibt – die schafft mit ihrer sphärischen Überfrachtung erst den Resonanzraum für die große Frage nach Schuld, Sühne und so weiter.

Im Roman ist die aufgeblasene Moralität nur deshalb zu ertragen, weil Tolstoi unendlich besser schreibt als er gläubig ist. Auf der Bühne wird sogar noch eine echte Freude daraus.

Nächste Aufführungen: Fr, 29. 3.-, 24. 4., 11./28. 5., Theater am Goetheplatz, Bremen

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