Buch über Misstrauen: Viel besser als sein Ruf
Florian Mühlfried schlüsselt in seinem Band „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“ unscharfe moralische Kategorien auf.
Am 26. September 1983 bekommt Stanislaw Petrow, Kommandant in einem Bunker der sowjetischen Flugabwehr, eine Meldung, die besagt, die USA habe eine Atomrakete mit dem Ziel Sowjetunion auf den Weg gebracht. Petrow leitet die Nachricht nicht weiter, er glaubt an einen technischen Defekt seines Computers. Sein Misstrauen hat die Welt gerettet.
Eine wahre Begebenheit, die der Sozialanthropologe Florian Mühlfried schildert, um die konstitutive Rolle von Misstrauen bei der Willensbildung in Erinnerung zu rufen, aber auch, weil er der Ansicht ist, die Praxis von Misstrauen sei vielfältiger als unser problematisierendes Verständnis von ihr. Im postfaktischen Zeitalter hat Misstrauen Hochkonjunktur. Glaubwürdige Berichte besagen, russische Hacker haben mit gefälschten Social-Media-Konten Desinformation betrieben, um Misstrauen gegen die US-Demokraten zu schüren und den Präsidentschaftswahlkampf 2016 zugunsten von Donald Trump zu beeinflussen.
Von der Bankenkrise über die NSA-Affäre bis hin zum Abgasskandal, Verwerfungen großer Konzerne und fragwürdige Praktiken von Sicherheitsbehörden haben die unbestimmte Angst von BürgerInnen und somit ihr Misstrauen gegenüber der Wirtschaft und den Grundfesten des Staats verstärkt. Demokratie steckt in einer Legitimationskrise, populistische Ideologien sind auf dem Vormarsch. Mühlfried schiebt voraus, Misstrauen sei konstituierend für den modernen demokratischen Staat: Dessen Modell der Gewaltenteilung ist explizit aus einem Misstrauen gegenüber totalitären Herrschaftsinstrumenten entstanden.
In dem Band „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“ schlüsselt der Hamburger Wissenschaftler überzeugend die unscharfe moralische Kategorie des Begriffs auf. Er stellt anhand einer Spektrenanalyse eine Skala von Misstrauen dar: seine nach außen gerichteten – zentrifugalen – und nach innen wirkenden – zentripedalen – Potenziale. Zu starke zentrifugale Kräfte von Misstrauen (etwa im Weltbild islamistischer Terroristen) bedrohen eine Gesellschaft. Mühlfried erscheint die zentripedale Eigenschaft von Misstrauen als „Grundlage für Engagement“ dagegen demokratiefördernd, etwa von einer NGO, die Bauern Mikrokredite gewährt.
Florian Mühlfried: „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“, Reclam Verlag, Stuttgart 2019, 88 Seiten, 6 Euro
Auf gesellschaftlicher Ebene argumentiert Mühlfried mit dem Soziologen Niklas Luhmann. Misstrauen ist nicht nur das Gegenteil von Vertrauen, sondern auch sein funktionales Äquivalent. „Im Namen der Demokratie Vertrauen zu fordern ist paradox, denn die Praxis Demokratie schließt Misstrauen ausdrücklich ein.“ Heute habe der Diskurs um Vertrauen allerdings hegemoniale Züge angenommen. Für die Zukunft prognostiziert Mühlfried, dass Misstrauen zur Überlebenstechnik wird, weil es die Kraft hat, „Herrschaftsverkrustungen aufzubrechen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Habeck hat Bock
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Schönheitsideale in der Modewelt
Zurück zu Size Zero