: „Nicht nur schulter-klopfender Rückblick“
Die Waldorfschulen feiern dieses Jahr ihr hundertstes Jubiläum mit dem weltweiten Projekt Waldorf 100. Leiter Henning Kullak-Ublick erklärt die Idee dahinter
Henning Kullak-Ublick, 63, war 26 Jahre Lehrer an der Flensburger Waldorfschule, ist als Vorstand Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen und Projektleiter von Waldorf100.
Interview Frieda Ahrens
taz: Wie entstand die Idee zu dem Projekt Waldorf 100?
Henning Kullak-Ublick: Da muss ich etwas ausholen. Zweimal im Jahr gibt es die „Internationale Konferenz der waldorfpädagogischen Bewegung“. 2014 haben wir uns in Israel getroffen. Dort saßen wir mit einigen Schüler*innen der zwölften Klasse zusammen, die uns von ihrem bevorstehenden zweijährigen Militärdienst erzählten. Ein Mädchen sagte: „Ich bin im Krieg geboren und werde wahrscheinlich auch im Krieg sterben. Das Wichtigste, was ich an der Waldorfschule gelernt habe, ist, dass ich, egal was in meinem Leben passieren wird, immer zuerst den Menschen sehen werde und dann erst den Christen, Drusen, Juden, Muslim oder Araber.“ Diese Aussage fuhr so sehr in mich rein, dass sofort klar war, dass wir unser hundertstes Jubiläum nicht als schulterklopfenden Rückblick feiern, sondern dass wir alle Energie zusammennehmen wollen, um das weltweite Miteinander der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen – das ganze Jubiläumsjahr hindurch.
Und wie funktioniert das?
Eigentlich ist die Ur-Idee von Waldorf 100: Begegnung, Begegnung, Begegnung. Wie kriegen wir hin, dass die Schüler*innen eine Wahrnehmung bekommen von der Welt in ihrer Vielfalt und auch Schönheit? Wir sind, wenn man über die globale Welt spricht, fast ausschließlich auf die Probleme und Katastrophen fixiert. Was einzelne Menschen für wunderbare Sachen machen, gerät dabei zu oft aus dem Blick. Das ist für Schüler*innen aber wichtig, weil sie erst einmal eine Beziehung zur Welt aufbauen müssen, um Verantwortung für sie übernehmen zu können. Dadurch sind weltweit ganz viele Projekte entstanden, die über den Tellerrand rausgucken wollen.
Was für Projekte?
Dafür nur ein Beispiel: Zum Auftakt haben wir 1,2 Millionen Postkarten mit den Adressen aller 1.200 Waldorfschulen auf der Welt drucken lassen und einen Satz an jede Schule verschickt. Die Schüler*innen haben diese Postkarten gestaltet und so hat jede Waldorfschule auf der Welt jeder Waldorfschule auf der Welt eine Postkarte geschickt. Für die Kinder ist es schön zu sehen: Überall da gibt es Waldorfschulen. Damit wird direkt Interesse für die anderen Länder geweckt.
Was machen Sie in Deutschland?
Es gibt ganz viele Projekte, künstlerisch, praktisch oder sportlich. Zurzeit wandern drei Staffelstäbe durch Deutschland. Bei dem Projekt gibt nur eine Bedingung: Die Kinder dürfen die nicht motorisiert von einem Ort zum nächsten bringen. Was die sich da ausdenken, ist sagenhaft: Die einen surfen, die nächsten schwimmen, dann fahren welche mit dem Einrad oder einem Drachenboot über die Ostsee und wieder jemand anderes macht eine Nachtwanderung.
Was passiert im Norden?
Im Kiel auf der Krusenkoppel wird im September ein großes Fest gefeiert. In Hamburg finden in der Laeiszhalle am 13. September ganztägig immer wieder Veranstaltungen statt. Mit Schülern*innen aus den Hamburger Schulen – auch schulübergreifende Projekte werden vorgestellt. Am 6. März wird in Hamburg eine Preisverleihung stattfinden für eines der Großprojekte, den Dramawettbewerb. Da wird die Jury aus bekannten Schauspieler*innen, die selbst an der Waldorfschule waren, den Preis in den Kammerspielen verleihen: Autor*innen waren aufgerufen, der Frage nach dem Wesen des Menschen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz nachzuspüren.
Was für einen Wandel hat die Waldorfschule in den letzten 100 Jahren durchgemacht?
Die Waldorfpädagogik basiert auf der Wahrnehmung der Kinder, individuell, in ihrem sozialen Kontext und altersbezogen. Deshalb befindet sich eine Waldorfschule, die sich selbst richtig versteht, immer im Wandel. Es gibt gar kein starres System, aber es gibt grundlegende Gesichtspunkte, die sich in einem sehr freilassenden und zur Eigeninitiative einladenden Lehrplan niederschlagen. Anhand realer Kinder und einem realen Kontext sollten die Lehrenden gucken, was die Kinder individuell und als Gruppe brauchen. Wandel ist also ein impliziter Bestandteil unserer Pädagogik. Sobald man Copy and Paste macht, ist das keine Waldorfpädagogik mehr. Natürlich haben wir auch Traditionen entwickelt, aber die sind immer nur so gut wie das Leben, das in ihnen steckt.
Wie hat die Geschichte dazu beigetragen?
In Deutschland war die große erste Aufbauphase in den 20er- und frühen 30er-Jahren. Die wurde in den 30er-Jahren dann ja abrupt beendet, weil entweder die Nazis oder die Schulen sich selber geschlossen haben, weil sie diese Kompromisse nicht mehr mitmachen wollten. Die Anfangsjahre waren unglaublich stark geprägt von den Persönlichkeiten, die noch direkt mit Rudolf Steiner zusammengearbeitet haben. Nach dem Krieg wurde die Pädagogik immer mehr durch Bücher und Seminare weitergegeben. Während der folgenden Konsolidierungsphase entstanden immer neue Waldorfschulen, weil die Eltern eine andere Pädagogik suchten. Heute sind sie nicht mehr wegzudenken.
Und heute?
In den letzten Jahren hat die riesige Frage der Digitalisierung das alles noch mal total aufgemischt. Es gibt einen großen Diskurs an den Waldorfschulen, wie wir unsere Pädagogik noch mal neu entdecken und erschließen können, um die Kinder auf das Leben in einer Welt vorzubereiten, die weitgehend von Künstlicher Intelligenz organisiert sein wird. Wie schaffen wir es, dass sie nicht nur gut funktionierende Anwender werden, sondern die Technik durchschauen und für eine menschenwürdige Entwicklung ihrer selbst und der Welt nutzen können?
Dort liegt heute der Fokus?
Das ist der eine. Der zweite ist philosophisch: Wie kann die Angst, die heute unheimlich viele Entscheidungen unserer Gesellschaft steuert, durch die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit überwunden werden? Auch wegen solcher Fragen wünsche ich mir, dass wir noch selbstverständlicher mit allen anderen Schulen zusammenarbeiten, die auch nach neuen Wegen suchen.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie den Schweinezaun der Dänen. Das ist für mich geradezu eine Karikatur, wo wir heute angelangt sind. Momentan gibt es diese Einmauerungsideologie weltweit. Das ist eine große Aufgabe für die Pädagogik: Jungen Menschen Wege zeigen, wie man Brücken zu anderen Menschen baut. Das Verhältnis von Individualität zur Gemeinschaft, das muss eine grundlegende Basisschule werden.
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