Kolumne Behelfsetikett: Das Wohnparadies mit Fernheizung
Da ist ja nicht nur der weite Blick: Der Plattenbau kann allemal ein Sehnsuchtsort sein.
Als ich 1992 des Studiums wegen nach Berlin zog, landete ich in Lichtenberg. Über Freunde von Freunden konnte ich in einer Einraumwohnung mit kleinster Küche und Minibad unterkommen. Doch schon nach einem Monat musste ich mir eine neue Bleibe suchen. Per Zeitungsinserat – so ging das im vordigitalen Zeitalter – fand ich eine geräumige Zweizimmerwohnung in Hellersdorf zur längerfristigen Untermiete. In einem siebengeschossigen Plattenbau in der Grottkauer Straße. Ohne Fahrstuhl, dafür mit weitem Blick übers Hochhäusermeer. Und mit Fernheizung, fließend Heißwasser und Innentoilette – das alles war in den frühen 90ern für Berliner Innenstadtverhältnisse beileibe nicht selbstverständlich.
Mit dem DDR-Plattenbau hatte ich mich schon als 16-Jähriger beschäftigt. Erst habe ich den Roman „Einzug ins Paradies“ von Hans Weber (1979 erschienen) gelesen und dann als Thema für meinen Deutschaufsatz bei den Abschlussprüfungen in der 10. 0Klasse gewählt. Weber schrieb über die neuen Mieter in einem Plattenbau in Marzahn, Erstbezieher. Sie kamen sich schneller als gewöhnlich näher – man konnte von Balkon zu Balkon laufen, weil Trennwände fehlten. So entstanden realsozialistische Geschichten von fünf Familien an den ersten sechs Tagen im neuen Heim – eben im (Wohn-)Paradies.
Das freie Thema sollte sich um „sozialistische Helden“ drehen. Den Lehrern war mein gewähltes Buch aber nicht sozialistisch genug. Denn einer der Haupthelden war ein trinkender und desillusionierter, dafür fantasievoller und witziger Parteisekretär, ein Mann mit biografischen Brüchen. Ich fand das toll.
Das Selbstverständlichste von der Welt
Ohnehin war für mich eine Wohnung im Plattenbau das Selbstverständlichste von der Welt. Ich war in einem Dorf in Westmecklenburg im Plattenbau aufgewachsen. Ich kannte das also und hatte deshalb kein Problem mit den Hellersdorfer Plattenbauten. Wohl aber mit Hellersdorf.
Das hatte praktische Gründe: Der Weg zur Humboldt-Universität gestaltete sich tagsüber schon recht langwierig, obwohl die U-Bahn-Station quasi vor der Haustür lag. Als Student aber zog ich viel um die Häuser. Auf dem Heimweg musste ich x-mal umsteigen und mit dem Nachtbus durch halb Berlin gondeln. Auch war die Fahrzeit nachts mit eineinhalb oder zwei Stunden unerträglich lang.
Nach einem Jahr hatte ich die Schnauze voll davon. Scheiß auf die Annehmlichkeiten sozialistischer Plattenbauten!
Ein Kachelofen, kein Klo
Es verschlug mich in eine Einraumwohnung nach Friedrichshain. Mit Kachelofen, jedoch ohne Klo, das lag eine halbe Treppe tiefer und benutzte ich nicht allein.
Im Sommer war die Wohnung unterm Dach schrecklich heiß. Im Winter erbärmlich kalt. Die Eisblumen an den Fenstern waren manchmal zentimeterdick – trotz des geheizten Kohlenofens. Aber ich wollte es ja so: Ich zahlte für die Bruchbude schlappe 240D-Mark und hatte endlich viel kürzere Nachhausewege.
Doch manchmal hatte ich Sehnsucht nach den Behaglichkeiten der Wohnung in Hellersdorf. Vor allem in dem Winter, in dem es so kalt war, dass in der Küche der kleine Warmwasserboiler explodierte. Das Wasser in ihm war gefroren, es dehnte sich aus und sprengte das Gerät. Glücklicherweise war ich nicht zu Hause.
Wohnen in der Beletage
Heute wohne ich in einem Gründerzeithaus in der Beletage. Mit Balkon und abgezogenen Dielen, mit Küche und gleich zwei Bädern, mit Gasetagenheizung und allem Pipapo. Ich wohne hier seit zwanzig Jahren und bin zufrieden.
Doch nun steht mal wieder eine Mieterhöhung an. Das setzt Ängste in Gang: Was, wenn ich mir das Wohnen in Friedrichshain bald nicht mehr leisten kann? Über viele Jahre hinweg hab ich mir in solchen Momenten eingeredet, doch überall in Berlin wohnen zu können. Auch in Hellersdorf oder Marzahn! Warum nicht? Aber selbst dort gibt es ja keine freien Wohnungen mehr.
Anfang Januar veranstaltete das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf einen Festakt zum 40. Gründungstag des Bezirks: Am 5. Januar 1979 hatte der Magistrat von Berlin (Ost) die Gründung eines neuen Stadtbezirks rings um das alte Dorf Marzahn beschlossen. In 13 Jahren danach wurden dort 100.000 Wohnungen errichtet. Wohnungen, das hatte ich ja am eigenen Leib erlebt, die die meisten Mieter liebend gern bezogen hatten.
100.000 Wohnungen: eine Leistung, an die auf dem Festakt der Regierende Bürgermeister Michael Müller in einem Grußwort anerkennend erinnerte. Diese Kraft wünsche er sich auch heute noch. Wo doch Wohnungen zur absoluten Mangelware geworden sind. Man könnte auch sagen: Müller wünscht sich sein eigenes Paradies. Warum nicht in Plattenbauweise?
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