piwik no script img

Wirsind positiv

Menschen mit HIV bekommen in der Türkei zwar neueste Medikamente. Von der Gesellschaft werden sie aber nach wie vor stigmatisiert. Zwei Protokolle

Von Barış Altıntaş und Elisabeth Kimmerle

Während weltweit die Zahl der HIV-Infektionen in den meisten Ländern zurückgeht, ist die Türkei eines der Länder, in denen sich immer mehr Menschen infizieren. Laut Deniz Gökengin, Spezialistin für Infektiologie an der Ege-Universität in Izmir, hat sich die Infektionsrate in den vergangenen zehn Jahren verzehnfacht. Von 1985 bis 2018 hat das türkische Gesundheitsministerium 20.293 Menschen mit HIV registriert. Zwar ist die Zahl der HIV-Infektionen in der Türkei im Vergleich mit anderen Ländern nach wie vor eher niedrig. Gökengin geht aber davon aus, dass die Dunkelziffer doppelt so hoch ist.

Çiğdem Şimşek, Vorstandsmitglied des Vereins Pozitif-iz („Wir sind positiv“), sagt: „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.“ Ihr Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit HIV-Diagnose zu unterstützen und das Bewusstsein in der Gesellschaft für die Infektion zu erhöhen. Den Anstieg der Infektionsrate in der Türkei führt sie auf leichteren Zugang zu Sex in Verbindung mit unzulänglicher Präventionsarbeit und Bildung in sexueller Gesundheit zurück. Der Hauptübertragungsgrund der Infektion ist immer noch ungeschützter Sex.

Zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene finden, dass der Zugang zu Medikamenten und zur Behandlung von HIV in der Türkei gut geregelt ist. HIV-positive Personen werden aber immer noch stigmatisiert und diskriminiert. „Die Ursache dafür ist Unwissen und mangelndes Bewusstsein“, erklärt Deniz Gökengin. „Nicht nur die Gesellschaft, auch das Pflegepersonal denkt immer noch, HIV sei eine tödliche Krankheit, die in alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen wird. Alle haben Angst, dass sie sich anstecken.“

Auch wenn viele wegen der Stigmatisierung ihre Identität nicht öffentlich machen wollen, werden die Stimmen von Menschen in der Türkei, die mit HIV leben, lauter. taz gazete hat mit zwei von ihnen gesprochen.

Oğuzhan Latif Nuh, 24, Student, Diagnose 2016

Als ich meine Diagnose bekommen habe, hatte ich gerade mein Studium abgebrochen. Ich habe in einer Bar gearbeitet und mich auf die Eingangsprüfungen für ein neues Studium vorbereitet. Die HIV-Diagnose hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Zuerst dachte ich, dass alles, was ich im Leben erreichen wollte, nun unmöglich geworden sei. Ich wurde depressiv und habe meine Wohnung monatelang nicht verlassen.

Dann habe ich angefangen, mich zu informieren, und verstanden, dass meine Ängste daher rührten, dass ich nicht genug über HIV wusste. Ich habe festgestellt, dass heutzutage Menschen, die mit HIV leben, ihr Leben normal weiterführen können, wenn sie in Behandlung sind. Nach der Diagnose rief ich sofort meinen Freund an und forderte ihn auf, auch einen Test zu machen. Als sein Test negativ war, wollte ich mich von ihm trennen. Doch er blieb bei mir und unterstützte mich. Neben meinem Freund erzählte ich engen Freund*innen, dass ich HIV-positiv bin. Ohne die Unterstützung meiner Freund*innen und meines Partners wäre ich aus der Depression nicht herausgekommen. Eine HIV-Diagnose zu bekommen kann dich unglaublich einsam und hilflos fühlen lassen; vor allem, wenn du zu einer Gruppe gehörst, die in der Gesellschaft ohnehin schon nicht akzeptiert wird.

Die HIV-Diagnose hat meine Freundschaften stärker gemacht. Gleichzeitig hat sie dazu geführt, dass ich mich von meiner Familie entfernt habe, weil sie nicht besonders verständnisvoll darauf reagiert hat, dass ich schwul bin. Ich habe beschlossen, ihr erst von der Diagnose zu erzählen, wenn unsere Beziehung sich verbessert hat.

Weltweit leben ungefähr 37 Millionen Menschen mit HIV. Diese Menschen sind nicht nur Homosexuelle, Sexarbeiter*innen und Drogenabhängige. Das ist eine Infektion, die durch einen Virus verursacht wird. Es ist völlig gleichgültig, ob sie Mütter, Väter, Kinder, Anwält*innen, Lehrer*innen oder Ärzt*innen sind.

Ironischerweise werden HIV-Positive in der Türkei am meisten in Krankenhäusern stigmatisiert. Die Sekretär*innen und Kran­kenpfleger*innen sind nicht sensibel genug, wenn es um HIV geht. Es kommt vor, dass die Krankenschwester beim Blutabnehmen sagt: „Ich ziehe mir lieber Handschuhe an“, wenn sie erfährt, dass ich HIV-positiv bin.

Sevgi Yılmaz, 40, Lehrerin, HIV-Diagnose 2005

Ich habe Glück gehabt. Meine Familie hat mich von Anfang an sehr unterstützt. Ich hatte nur Schwierigkeiten, es meiner Tochter zu erklären. Bei mir wurde Aids im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Weil ich lange Zeit im Krankenhaus war, hatte sie Angst, mich zu verlieren. Ich konnte ihr erst vier Jahre nach meiner Diagnose erzählen, was los ist. Davor habe ich mich von einer Kinderpsychologin beraten lassen.

Anfangs wollte ich ihr nicht alles erzählen, weil es sie verwirrt hätte. Deshalb habe ich ihr nur vermittelt, dass sie keine Angst zu haben braucht und dass mir nichts passiert. Es fiel mir auch schwer, meiner Tochter von der Diagnose zu erzählen, weil ich mich bei meinem Exmann angesteckt habe. Er ist ihr Vater. Als sie mich gefragt hat, woher ich den Virus habe, habe ich ehrlich geantwortet. „Ich habe mich bei deinem Vater angesteckt. Er hat es nicht gewusst und gewollt.“

Inzwischen bin ich mit einem HIV-negativen Mann verheiratet, der im Gesundheitssektor arbeitet. Meine HIV-Infektion stand nie zwischen uns, sie beeinträchtigt nicht einmal unseren Alltag.

Ich bin dankbar, weil ich durch die HIV-Diagnose viel gelernt habe. Ich bin dadurch stärker geworden und habe tolle Menschen kennengelernt. Ich kann sagen, dass ich die einzige HIV-positive Frau in der Türkei bin, die die Interessen von Betroffenen vertritt. Es tut mir gut, ein Vorbild für Menschen zu sein, die gerade ihre Diagnose bekommen haben, und sie dabei zu unterstützen, ihr Leben mit HIV zu normalisieren. Und zugleich als heterosexuelle Mutter ein Beweis dafür zu sein, dass HIV keine Krankheit ist, die nur Homosexuelle betrifft.

Was den Zugang zu Medikamenten und Behandlung angeht, haben wir hier in der Türkei Glück. Die neuesten Medikamente sind vorrätig. Die Probleme erleben wir eher im Gesundheitswesen und im sozialen Umfeld. Am meisten stigmatisiert werden wir im Gesundheitssektor und von Kran­kenpfleger*innen, weil sie nicht genug über HIV wissen. In der Universität steht es nicht im Curriculum, deshalb schließen sie das Medizinstudium auf diesem Gebiet mit Halbwissen ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen