: Kirschbaumblüte statt Atomausstieg
KATASTROPHE Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy stellt sich in seinem neuen Buch die Aufgabe, „nach Fukushima zu philosophieren“, und entdeckt einen verhängnisvollen Teufelskreis
Franzosen und Deutsche, so kommentierte Heinrich Heine, reagierten Ende des 18. Jahrhunderts unterschiedlich auf die Zeitlage: Jenseits des Rheins veranstaltete man eine politische Revolution und köpfte den König, diesseits schrieb man die „Kritik der reinen Vernunft“ und entmachtete das Ding an sich.
Ein Beispiel dafür, dass die deutsch-französische Arbeitsteilung zwischen politischer und theoretischer Radikalität auch umgekehrt erfolgen kann, ist die Weise, wie beide Gesellschaften Fukushima verarbeiten. Die letzten Tsunamiwogen waren kaum weggeschwappt, da war in Deutschland der Ausstieg aus der Atomenergie schon festgeschrieben. Die Lichterstadt Paris wird dagegen noch lange mit Nuklearenergie ihre Laternen zum Leuchten bringen. Dafür sind es diesmal die Franzosen, die – mit Hölderlin gesprochen – sich „tatenarm und gedankenreich“ präsentieren: Auf dem französischen Buchmarkt ist in diesen Wochen eine Schrift des Philosophen Jean-Luc Nancy erschienen, die sich die Aufgabe stellt, „nach Fukushima zu philosophieren“.
Philosophieren über eine aktuelle Katastrophe hat in Frankreich Tradition: Rousseau hat einst über das Erdbeben von Lissabon nachgedacht; in jüngerer Zeit reagierte Jacques Derrida auf den Twin-Towers-Anschlag mit dem Text „Der ‚Begriff‘ des 11. September“. Wenn nun Nancy ankündigt „nach Fukushima zu philosophieren“, ist das auch eine Anspielung auf Adornos berühmtes Diktum über die Unmöglichkeit, „nach Auschwitz“ zu dichten. Der Donnerschlag der wohl etwas vorschnellen Auschwitz-Assoziation gibt die Tonlage vor: Für Nancy reicht die friedliche Nutzung der Kernenergie in dieselbe abgründige Unheilstiefe wie der Holocaust.
Nur eine Spirale
Nancy ist ein Denker, der aufs Ganze geht, und so ist für ihn die apokalyptische Drohung, die sich mit dem Namen Fukushima verbindet, eigentlich gar nicht die Kernenergie, sondern ein generelles, fast ein ontologisches Phänomen. Ein simpler Ausstieg greift für Nancy denn auch viel zu kurz. Die Katastrophe, die da in Fukushima passiert ist, und jene andere, die seit einiger Zeit die Finanzmärkte durcheinanderbringt, sind für ihn letztendlich dasselbe Desaster.
Um es kurz zu sagen: Nancy entdeckt in der Grundkonfiguration unserer Zivilisation einen strukturellen Fehler: Die „Differenz“ – Nancy gehört zu jener Generation französischer Denker, für die Identität ein negativ besetzter Begriff ist – ist aus ihr verschwunden. Bemerkbar wurde das zunächst im Bereich des Warenverkehrs. Mit seiner Definition des Geldes als „allgemeiner Äquivalenzform“ habe Karl Marx die Formel für ein Zeitalter geprägt, in dem von nun an auch das Getrennteste miteinander in Verbindung treten kann.
Nancy ist davon überzeugt, dass die Aquivalenzform mittlerweile längst den ökonomischen Bereich überstiegen und sich in die Existenz des Menschen und der Welt insgesamt hineingefressen hat. So wie dank des Geldes jede Ware mit jeder Ware virtuell in Kontakt trete, interagiere in unserer technologisch hochkomplexen Zivilisation jedes Phänomen irgendwie mit dem Rest der Welt. Nichts mehr ruht in seinem Sein, alles verläuft sich im Netzwerk und bildet Ketten, die unkalkulierbar sind. Fukushima, das mit einer Meereswoge begann, die zu einer Atomkatastrophe metastasierte, ist ein Menetekel der „Äquivalenz der Katastrophe“, die – wie Nancy ein wenig sibyllinisch raunt – die Wahrheit unserer Zivilisation sei.
Ein Ausstieg könne nicht die Lösung sein, da er statt Technologie abzurüsten nur umrüstet und so den Teufelskreis unkontrollierbarer Verkomplizierung nicht durchbricht. Solange unser Denken vom „technologischen Unbewussten“ konfiguriert bleibt, zieht jede alternative Option nur eine neue Spirale auf der Unheilsbahn. Im schlechten Leben der hochkomplexen Vernetzungen kann es kein richtiges Leben geben. Die wahre Antwort auf Fukushima sieht Nancy im Ausbruch in eine neue, eine „kommunistische“ Zivilisation.
In einen Kommunismus, der allerdings das klassische marxistische Gleichheitspostulat durch postmodernes Differenzdenken auflockert und so mit der „Katastrophe der Äquivalenz“ wirklich Schluss macht. Nancy kann diesen „Kommunismus der Ungleichwertigkeit“ nur poetisch evozieren. Statt Kernkraftwerke wird es dort die japanische Zeremonie des „Hanami“ geben: das bewundernde Betrachten der Kirschbaumblüte.
CHRISTOF FORDERER
■ Jean-Luc Nancy: „L’Équivalence des catastrophes (Après Fukushima)“. Editions Galilée, Paris 2012, 80 Seiten, 15,99 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen