heute in hamburg
: „Die Frauen fallen oft weg“

Foto: Laurent Burst

Antje Schrupp, 54, ist Journalistin und Politologin. Sie bloggt über Politik, Feminimus und Philosophie.

Interview Carlotta Hartmann

taz: Frau Schrupp, warum sollen Linke aufhören, „Das Kapital“ zu lesen?

Antje Schrupp: Es ist einfach nicht das einzige linke Buch aus der Zeit. Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts ist reich an politischen Ideen, und es gibt nicht nur einen Weg, den Kapitalismus zu überwinden. Wir reduzieren eine ganze Bewegung auf ein oder zwei Namen. Als Feministin finde ich besonders krass, dass dabei oft die Frauen wegfallen.

Woran liegt das?

Wir erzählen Geschichte als Kampf von großen Männern, die sich aneinander abarbeiten. Das ist ein defekt unserer Kultur. Schon in der Antike haben wir Aristoteles gegen Platon, später Kant gegen Hegel und dann Marx und Bakunin für die Arbeiterbewegung. Das ist traurig: Politische Ideen entwickeln sich aus Diskursen und Erfahrungen, nicht durch Herrn Marx, der in der Bibliothek sitzt und das 19. Jahrhundert analysiert. Die Theorie der Arbeiterbewegung ist vielstimmig. Sie zu verstehen ist komplizierter als nur ein Buch zu lesen.

Welche anderen Bücher sollte man denn lesen?

Texte von André Léo zum Beispiel. Sie war in der Pariser Kommune sehr aktiv und hat viel geschrieben, das auch heute noch interessant ist. Damals war die Frage, welche Koalitionen man bilden durfte: Kann man mit bürgerlichen, republikanischen Kräften zusammenarbeiten? Heute diskutieren Feminist*innen, ob Sexarbeiter*innen mit auf Demos dürfen. André Léo hat sich, im Gegensatz zu Marx und Bakunin, immer für Koalitionen ausgesprochen. Dabei bringt man doch erst durch Zusammenarbeit andere Stimmen und Meinungen ins Spiel.

Also fehlt es Ihnen an Vielfalt?

Vortrag „André Léo, oder: Warum die Linke nicht mehr Das Kapital lesen sollte“: 20 Uhr, Schwarze Katze, Fettstraße 23

Kaum eine These wird nicht mit Marx abgeglichen. Das ist mal wichtig, um die eigene Argumentation zu verdeutlichen – aber wir müssen aufhören, nur noch in Form von Marx-Zitaten zu diskutieren. Auch andere Diskurse sind zu fokussiert auf einzelne Personen: Kaum ein feministischer Text bezieht sich nicht auf Judith Butler oder Michel Foucault. Das beschränkt das eigene Denken und begrenzt, wer mitreden darf: Nämlich nur, wer die großen Namen gelesen hat.

Wie kann sich das verändern?

Wir müssen Bewegungen in ihrer ganzen Vielfalt betrachten. Das eröffnet auch Theorien aus anderen Kulturen und marginalisierten Gruppen den Weg in den Diskurs. Ob das, was ich sage, jemanden überzeugt, darf nicht davon abhängen, ob ich Karl Marx zitieren kann, sondern davon, wie gut meine Argumente sind.