: Nur ein Dutzend Bilder
Der Schweizer Franz Gertsch gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Künstlern des Landes. Die Kieler Kunsthalle präsentiert ihn in einer ganz unklassischen Retrospektive
Von Frank Keil
Es kommt nicht oft vor, dass man sich ein Bild eine Stunde lang anschaut. Dass man sich vor ihm auf den Boden setzt, vielleicht sogar kniet, wieder aufsteht und denkt, dass es nun langsam genug sei, da sind ja auch links und rechts noch andere Bilder. Aber man geht nicht, man bleibt, man kommt einfach nicht weg. So kann es einem ergehen und so wird es einem ergehen, wenn man im Erdgeschoss der Kieler Kunsthalle den dritten Raum der Retrospektive des Schweizer Künstlers Franz Gertsch erreicht hat und vor „Silvia I.“ steht. Format 290 x 280 cm, Tempera auf ungrundierter Leinwand.
Die reale Silvia war Gertschs Frau Maria aufgefallen – als Teilnehmerin in einem Tai-Chi-Kurs, den sie gab. 1997 war das. Und Gertsch fotografierte die junge Frau – und ließ sich dann Zeit. Erst ein Jahr später holte er das Foto hervor und malte in den folgenden sechs Jahren Silvia in Gestalt überlebensgroßer Porträts. Sie sollten sich einfügen in Reihe weiterer Frauenporträts: Irína, Johanna, Dominique, Natascha.
All ihnen ist gemeinsam: Keine Pose wird eingenommen, keine Geste inszeniert, nur Blick und Ausdruck und Existenz zählen. Spiegel, Projektionsfläche und auch Fundort für Präsenz, Lebendigkeit, für Skepsis und Zurückhaltung und eben auch für Vergänglichkeit. Denn während man auf Silvia schaut, die zum Zeitpunkt der ersten Fotoaufnahme 19 Jahre alt war, weiß man: Die Person und ihr Erscheinungsbild wird heute längst anders aussehen.
Gertschs Grundprinzip: Das scheinbar statische Foto einer Person, einer Landschaft, eines Waldweges, auch eines Pflanzendetails als Vorlage eines zu malenden oder zu druckenden Bildes, das sich belebt zur auszuschmückenden Geschichte bis Erzählung. Die Vorlage distanziert sich dabei. Oder wie Gertsch es formuliert: „Je mehr ich mich an die Vorlage halte, desto weiter entferne ich mich von ihr.“
Programmatisch sein ebenfalls wandfüllendes Bild „Kranenburg“ von 1970: Zwei junge Frauen und fünf junge Männer auf dem Weg zu einer Vernissage durch eine typische Schweizer Kleinstadt namens Kranenburg, die weder Metropole sein wird, noch Dorf bleiben kann. Man schaut auf ihre Rücken, ihre Hinterköpfe. Einer hat lässig den Riemen einer Kamera ums linke Handgelenk gewickelt, man sieht förmlich, wie die Kamera im Rhythmus des Gehens hin- und herschlenkert – wer weiß, was sie zu sehen bekommen wird. Es geht voran, mit der Kunst, mit einem selbst, mit dem Leben, verspricht dieses Bild.
Franz Gertsch, Jahrgang 1930, an der Berner Malschule Max von Mühlenen ausgebildet, war 1972 Documenta-Teilnehmer; 1972, 1978 und dann wieder 1999 vertrat er die Schweiz auf der Biennale von Venedig; zuletzt mit einer Einzelpräsentation. Keine Ausstellung über erst gegenwärtige, dann zeitgenössische Schweizer Kunst kam und kommt ohne ihn aus.
Im Städtchen Burgdorf, zwischen Basel und Bern gelegen, gibt es gar seit 2002 ein eigenes „Franz Gertsch Museum“, ein eindrucksvoller, futuristischer Bau aus mächtigem Waschbeton, der gerade umfassend erweitert wird – alles finanziert vom Schweizer Unternehmer Willy Michel, eine große Nummer im Schweizer Pharmageschäft, zigfach millionenschwer.
Und wie kam Franz Gertsch nach Kiel? 1979 kaufte der damalige Leiter der Kunsthalle, Jens Christian Jensen, das Bild „Saintes Maries de la Mer I.“ für die Sammlung. Gertsch war 1970 in den gleichnamigen Küstenort in der Bretagne gereist, hatte dort an den Feierlichkeiten der Manouches zu Ehren der Heiligen Sara teilgenommen. Im folgenden Jahr war er zurückgekehrt, um von diesem Fest mögliche Motive einzufangen – und fand diese abseits der eigentlichen Feierlichkeiten im Angesicht dreier Mädchen, die ihrer eigenen Wege gehen und kurz davor sind, über die Steine des Strandes zu klettern.
Seit Langem hängt das Bild im Treppenhaus der Kieler Kunsthalle, im ersten Stock, wo das Haus seine ständige Sammlung in wechselnden Ausstellungen zeigt. Und man steht da, schaut auf die drei Mädchen, wie sie sich dem Betrachter kaum zuwenden, ihn aber durchaus bemerken und wahrnehmen, während sich hinter einem unter einem oft gräulichen Himmel die Kieler Förde ausbreitet. Gertschs Bild hat nichts vom plakativen Fotorealismus der Pop- oder der Nach-Pop-Ära; nichts von dessen demonstrativer Illustrierung. Es ist feiner, zugleich weit entrückter und damit konsequenter und präsenter gemalt.
20 Jahre später dann die nächste Gertsch-Erwerbung: Jensens Nachfolger Hans Werner Schmidt kaufte im Auftrag des Stifterkreises der Kunsthalle Gertschs dreiteiligen Holzschnitt „Schwarzwasser“ aus dem Jahre 1990/1991 an – Beleg eines Bruchs und Dokument eines Ausdruckswandels: Gertsch hatte radikal das Sujet gewechselt und vorerst Pinsel und Leinwand zur Seite gelegt. Stattdessen hatte er zum großformatigen Holzschnitt gefunden, hatte wie in diesem Fall Aufnahmen von Wasserkringeln, Tropfen und Kreisen auf der Oberfläche des Baches „Schwarzwasser“ in der Nähe seines Wohnhauses nun in einen Holzstock übertragen und das Ergebnis auf handgeschöpftem Japanpapier gedruckt.
„Ich wollte Franz Gertsch einmal größer zeigen, auch vor dem Hintergrund, dass wir zwei sehr wesentliche Werke in unserer Sammlung haben“, sagt nun die heutige Leiterin der Kunsthalle Anette Hüsch: „Und ich wollte das gerne mit dem Künstler zusammen machen und das hat sich in diesem Jahr gut gefügt.“
Und das ist überaus gut gelungen, denn die Ausstellung mit dem nur vordergründig klaren Titel „Bilder sind meine Biografie“ hat eben so gar nichts von einer klassischen Retrospektive, wo sich der Reiz der Betrachtung in der Verknüpfung von Werdegang und Werkfolge erschöpft.
Wir lernen vielmehr einen Künstler und sein Werk kennen, der trotz radikalen Wechsels in seinen Ausdrucksmitteln immer wieder zu seinen Grundthemen zurückfindet; der immer wieder radikal und konsequent seinen Werkmitteln vertraut und so uns zu überwältigen versteht. Und dazu braucht es in diesem Fall kaum mehr als ein Dutzend Bilder – die alle je in eine eigene und doch gemeinsame Welt führen.
Bis 24. Februar, Kieler Kunsthalle
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen