: Walzerrad in Unwucht
Der Pianist, Komponist und Performer Martin Hiendl a.k.a. Laure Leander spielt mit Mitgliedern des Zafraan Ensembles in der Konzertreihe „Music for Hotel Bars“ im Waldorf Astoria extrem verlangsamte Tanzmusik – als Kontrast zu unser hyperschnellen Zeit
Von Franziska Buhre
Als die Koexistenz von Wohnen und Amüsement Berlin noch als Metropole auszeichnete, vergnügten sich sowohl betuchte Anwohner, internationale Besucher, mittellose Künstler und einfache Bedienstete in den Tanzdielen, Kabaretts, Lichtspielhäusern und Hotels am Kurfürstendamm.
Dort bespielte der Komponist und Musiker Rudolf Nelson sein eigenes Theater mit den eigenen Revuen und Gastspielen wie etwa von Josephine Baker 1926. Bevor er, Sohn einer jüdischen Familie, 1933 vor den Nationalsozialisten fliehen musste, fand er im Hotel Esplanade am Potsdamer Platz eine letzte Zufluchtsstätte für seine Werke, dort gestaltete er das Programm einer Kleinkunstbühne. Achtzig Jahre später eröffnete einen Steinwurf entfernt vom Kurfürstendamm das Waldorf Astoria, in dem am 18. Dezember das vierte Konzert der Reihe „Music for Hotel Bars“ stattfindet.
Die Lang Bar im Waldorf Astoria ist nach dem Filmregisseur Fritz Lang benannt und im Stile der 1920er Jahre eingerichtet. Der Komponist und Performer Martin Hiendl a.k.a. Laure Leander hat sich für die neue Aufführung mit Mitgliedern des Zafraan Ensembles unter anderem einen Walzer ausgesucht, und zwar von Franz Lehár aus dessen Operette „Der Graf von Luxemburg“ von 1909. Lehár und Nelson waren Zeitgenossen und obwohl letzterer klassische und Wiener Walzer perfekt beherrschte, bevorzugte er in seinen Revuen eher schmissige Foxtrots im Viervierteltakt, denn schon in den 20er Jahren galten Walzer als Signum eines untergegangenen Zeitalters.
Hiendl a.k.a. Laure Leander hat sich im Vorfeld zu diesem Auftrag ausführlich mit Salonmusik auseinandergesetzt. „Walzer ist ja Tanzmusik. Früher wurde in Bars auch live Tanzmusik gespielt,“ erzählt er* im Gespräch. „Bei mir wird sie zu extrem verlangsamter Tanzmusik, als Kontrast zu der hyperschnellen Zeit, in der wir leben.“
Hiendl a.k.a. Laure Leander kreiert für die Geigerin Emmanuelle Bernard, den Cellisten Martin Smith und den Pianisten Clemens-Hund-Göschel in der Lang Bar ein ruhiges und besinnliches Szenario, das zwischen akustischen und elektronischen Klängen changiert. Er* arbeitet mit einem einstündigen Loop, einer Partitur und unterschiedlichen Vorgaben für die Musiker_innen, die bewirken, dass sich das Verhältnis der Klänge zueinander beständig verschiebt. „Jede Stimme des Walzers spielt ein anderes Tempo und so gerät dieses Walzerrad in Unwucht und fängt an zu rasseln, zu stehen, oder es fährt weiter. Wir entscheiden bei jedem Loop neu, was tatsächlich an Material gespielt wird.“
Das Setting der Konzertreihe, die Bastian Zimmermann initiiert hat und als künstlerischer Leiter durchführt, lädt Komponist_innen ein, sich mit der eigenen Rolle auseinanderzusetzen. „Als Komponist hat man sonst eher die volle Aufmerksamkeit. Der Reiz bei dieser Reihe ist ja, dass man sich der Frage stellt, was gute Hintergrundmusik leisten kann. Für mich ist das eine lehrreiche Herausforderung,“ meint Hiendl. Bevor er* mit der Aufführung betraut wurde, war er noch nie in einer Hotelbar zu Gast. „In letzter Zeit bin ich tatsächlich öfter in Hotelbars gegangen und kenne jetzt einige Menschen, die daran Spaß haben. Es ist sehr ruhig, es gibt super Drinks und das hat Stil.“
Hemmungen, die kostenlosen Veranstaltungen im exklusiven Ambiente zu besuchen, kann man sorglos aufgeben. Der Hotelbetrieb läuft weiter wie sonst auch, mehr Berliner Gäste sind willkommen. In der Lang Bar wird es dieses Mal zwei Signature Drinks geben, einen alkoholischen und einen nicht alkoholischen, zum Preis einer Eintrittskarte, die man sich als Gast ja spart.
Bastian Zimmermann zieht nach drei Konzerten, im Westin Grand, Bristol Hotel und im Ritz-Carlton eine positive Halbzeitbilanz. „Mir ist wichtig, dass die Künstler_innen die Orte ernst nehmen. Im Vorfeld war eine Auswahl von Null- bis Fünf-Sterne-Hotels angedacht. Aber es stellte sich heraus, dass ein trashiger Raum nicht unbedingt zur künstlerischen Auseinandersetzung einlädt. Ein Fünf-Sterne-Hotel ist ja die Zuspitzung von Servicewelt und Dienstleistung. Das finde ich musikästhetisch interessant – Musik als Dienstleistung, als Service zu denken. Es geht auch um die Frage, wie man sich in dieses Setting aus Hierarchien und Verhaltenskonventionen hinein positionieren kann. Natürlich steckt dahinter auch eine kleine Provokation. In der Bar eines Fünf-Sterne-Hotels kommt der künstlerische Prozess nicht zum Erliegen, da ist man ständig neu gefordert und Belanglosigkeit ist da ausgeschlossen.“
Die bisherigen Komponist_innen wählten vielfältige Verfahren: Mark Barden setzte im sechsstöckigen Atrium des Westin Grand mit dem Solistenensemble Kaleidoskop auf die Beiläufigkeit von Musik, deren Produzent_innen nicht zu sehen sind, Anna Jandt setzte im Bristol auf die Präsenz einer Band und reicherte die sich im Raum ohnehin schon abspielende Sozialdynamik unauffällig aber wahrnehmbar mit Statist_innen an, Neo Hülcker spitzte im Ritz-Carlton das Verhältnis zwischen Vorder- und Hintergrundmusik, Gesprächen und Geräuschen bis zu unüberhörbarer Lautstärke zu. Auf der Soundcloud-Seite der Konzertreihe kann man sich von allen Abenden einen Höreindruck verschaffen.
Und wie geht es weiter? Nach Hiendls Soiree im Waldorf Astoria stellt sich Leo Hofmann im Januar als Alleinunterhalter dem ausgeklügelten Soundsystem in der Bar des Stue-Hotels, Im Februar wird Genoël von Lilienstern mit dem Vokalensemble Phoenix16 im Concorde Hotel am Studio, um die Ecke vom ZOB am Kaiserdamm, die Funktion von Klang als Machtinstrument der Folter und euphorisierendem Anstifter in Diskotheken untersuchen.
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