Kolumne Nachbarn: Guten Morgen, Berlin
Zum fünften Mal feiere ich Silvester in Berlin. Und ich nehme Abschied von einem weiteren Jahr fern von Damaskus.
G uten Morgen, Berlin, du schöne Stadt, die du gerade Abschied nimmst von 2018.
Guten Morgen, Damaskus, lass mich hier – aus meiner Berliner Gegenwart – Abschied nehmen von einem weiteren Jahr, das ich fern von dir verbracht habe. Ich blicke auf dich zurück, mein Damaskus, und sage mir: Damaskus, du bist die Vergangenheit und die Zukunft.
Bereits zum fünften Mal werde ich Silvester in Berlin feiern und ein neues Jahr willkommen heißen. Dies ist die Stadt, die ich nach Damaskus in meine Seele und mein Herz geschlossen habe. Das wiederhole ich seit fünf Jahren – trotz aller Schwierigkeiten und Integrationshindernisse.
Silvester ist in Syrien ein absolutes Familienfest. Am Silvesterabend kommen alle Mitglieder der Familie zusammen, auch die, die sich seit dem letzten Jahresausklang nicht gesehen haben. Ich werde mich hier mit Freundinnen und Freunden treffen und ein syrisches Silvester feiern, das im Übrigen gar nicht so anders als das deutsche ist, um uns vom zu Ende gehenden Jahr zu verabschieden.
Alte und neue Gäste
Wir werden Essen kochen, zu Trinken besorgen, Musik hören und ins neue Jahr hineintanzen. Sicher werden einige von uns Silvesterraketen steigen lassen. Wir, die Silvestergesellschaft, entstammen nicht derselben Familie, wir kommen aus verschiedenen Städten und Regionen Syriens. Die meisten von uns sind seit Langem durch Freundschaft verbunden.
Einige werden dabei sein, weil sie sonst an Silvester allein wären. Andere Gäste werden wir zum ersten Mal sehen: Wir werden uns freuen, dass sie da sind und sie als Teil der Gruppe betrachten. Die in unserem Gedächtnis mitgebrachten Erinnerungen, Geschichten und Erfahrungen werden allgegenwärtig sein.
Alle werden etwas zu erzählen haben und sich an die Zeit vor ihrer Flucht zurückerinnern. Viele, wenn nicht alle, werden im Laufe des Abends ihren Familien und Freunden in Syrien schreiben und mit ihnen sprechen. Wir werden lachen und weinen, einander gute Wünsche und die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen aussprechen.
Gute Wünsche?! Ein rätselhafter Ausdruck, den man im Arabischen benutzt, um auf das schwer – wenn nicht sogar unmöglich – zu Erreichende hinzuweisen.
Dennoch wünschen wir uns genau das und sind dabei äußerst hoffnungsvoll und zuversichtlich. Hoffnung und Zuversicht geben wir nicht auf, damit wir weiterleben können. Damit tun wir auch niemandem weh. Frieden, Liebe und ein würdiges Leben voller Freude wünsche ich allen Menschen.
Übersetzung: Mustafa al-Slaiman
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke