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Politisches Essen

In vielen Städten der Welt organisieren Menschen eine Ernährungswende, indem sie neue Versorgungsstrukturen aufbauen

Thurn/Oertel/Pohl: „Genial lokal. So kommt die Ernährungswende in Bewegung“. Oekom, München 2018, 288 S., 20 Euro

Von Annette Jensen

Essen beschäftigt alle Menschen weltweit jeden Tag – doch Ministerien für Ernährung gibt es nicht. Lange Zeit erschien das Thema jenseits von Hungerkatastrophen als unpolitisch; allenfalls bei Lebensmittelskandalen wird es unter dem Aspekt Verbraucherschutz abgehandelt. Stattdessen konzentrieren sich Regierungen auf die Landwirtschaft, und hier dominieren die Interessen von global orientierten Agrarkonzernen.

In den USA leiden 41 Millionen Menschen an Mangelernährung, auch in Deutschland sehen sich Menschen mit wenig Geld gezwungen, Massenware beim Discounter einzukaufen. Doch Essen hat das Potenzial, fundamentale Änderungen anzustoßen, die gleichermaßen sozial und ökologisch vorteilhaft sind. Das belegen die drei AutorInnen Gundula Oertel, Christine Pohl und Valentin Thurn in ihrem Buch „Genial Lokal – So kommt die Ernährungswende in Bewegung“ mit einem Füllhorn von Informationen und Beispielen.

Impulse entstehen vor allem in großen Städten. So hat Toronto durch einen Beschluss verhindert, dass die Umgebung immer weiter zersiedelt wird, und stattdessen Ackerland für die lokale Lebensmittelproduktion geschaffen. Inzwischen produzieren dort 5.500 kleine Bauernhöfe Nahrung für die Metropole und sichern über 160.000 Arbeitsplätze.

In Dänemark wächst die Bioanbaufläche rasant, insbesondere weil in Kopenhagens 1.100 Kantinen heute mindestens 75 Prozent Bioessen auf den Tisch kommt. Dank eines klugen Ausbildungskonzepts für das Küchenpersonal kostet das nicht mehr als früher, erweist sich aber als überaus belebend für den Arbeitsalltag der KöchInnen und EsserInnen. Kinder lernen bereits im Kitaalltag schnippeln, schmoren und schmecken, regionale Kartoffel- und Gemüsesorten erleben eine Renaissance.

In den USA besteuern einige Kommunen Softdrinks, um gegen die Fettleibigkeit vorzugehen, in Südkorea ackern 1,5 Milli­onen StadtbewohnerInnen mit in der solidarischen Landwirtschaft. Studien belegen, dass 10 Prozent des weltweiten Ge­mü­sebe­darfs in den Städten selbst hergestellt werden können.

„Die neuen Realitäten der Ernährung werden ebenso bahnbrechend sein wie die Computer“, meint Wayne Roberts, der jahrelang den Ernährungsrat in Toronto geleitet hat. Der Trend, Ernährungsräte zu gründen, ist auch auf Deutschland übergeschwappt – und die drei AutorInnen gehören zu den ersten, die 2016 in Köln und Berlin einen gegründet haben. Inzwischen gibt es Dutzende weiterer, überwiegend zivilgesellschaftlicher Initiativen, und auch in ländlichen Regionen beginnen Menschen sich zu organisieren. Immer steht die konkrete Situation am entsprechenden Ort im Zentrum, zugleich werden Vernetzung und Austausch von Wissen großgeschrieben. Entsprechend enthält das Buch auch Kapitel mit Tipps und einer tabellarischen Übersicht, wie unterschiedlich sich Ernährungsräte organisieren.

Das Buch ist überaus informativ, an manchen Stellen gibt es allerdings Wiederholungen und man merkt, dass das Autorenkollektiv unterschiedliche Schreibstile und Zugangsweisen hat, was gelegentlich zu Brüchen führt. Am stärksten sind die Teile, die genau beschreiben, wie etwas wo gelingt. Dabei wird auch deutlich, dass Essen und Ernährung sich hervorragend eignen, um Brücken in auseinanderdriftenden Gesellschaften zu bauen. Ein Interviewpartner meint, „dass es schwieriger ist, jemanden zu hassen, wenn du mit ihm gegessen hast“. Deshalb kochen in einer Organisation in Bristol jede Woche Menschen aus einer anderen der 91 ethnischen Gruppen in der Stadt – und alle gemeinsam genießen anschließend das Mahl.

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