heute in bremen: „Seelische Genesung ist eine Heldenreise“
Reinhard Baeßler, 57, ist Psychologe in der Tagesstätte Wichernhaus.
Interview Eiken Bruhn
taz: Herr Baeßler, gibt es typische Genesungsverläufe?
Reinhard Baeßler: Jeder Genesungsprozess verläuft natürlich ganz individuell, weil die Menschen und die Voraussetzungen, unter denen sie genesen, sehr unterschiedlich sind. Aber das Recovery-Modell beschreibt eine Heldenreise in fünf Schritten. Ich finde dieses Bild sehr gelungen, weil es von einem positiven Gedanken getragen ist.
Erklären Sie den bitte.
Gerne. Zu Beginn steht der Ruf. Ich bemerke, etwas ist anders in meiner normalen Welt. Dann folgt die Weigerung: Ich will nicht wahrhaben, dass ich meinen Alltag nicht mehr so bewältigen kann, wie ich es gewohnt bin. Die Symptome sollen weg, alles soll wieder so sein, wie es war. Anschließend, in der Überwindung, begebe ich mich auf den Aufbruch, ich nehme das Geschehen an und suche Unterstützung bei Mentoren, die mir helfen, meinen Weg zu finden. Auf diesem muss ich wahrscheinlich Hürden überwinden, auch kleinere Krisen überstehen. Den Schluss einer Genesung markiert die Rückkehr, in der ich meine alte und meine neue Welt miteinander versöhne und wieder ein erfülltes und zufriedenes Leben führe.
Heißt das auch, dass die Symptome der psychischen Erkrankung dann ganz verschwunden sind?
Es gibt Menschen, die nach einer überstandenen Krise jahre- oder sogar jahrzehntelang symptomfrei sind. Andere haben vielleicht noch mit Symptomen zu tun, aber sie behindern sie sind nicht mehr so in ihrem Alltagsleben. Sie konzentrieren sich nicht mehr so auf sie. Wenn jemand zum Beispiel Angst hat, mit der Straßenbahn zu fahren, dann kann es sein, dass diese Gefühle weiterhin auftauchen, er aber Bewältigungsstrategien entwickelt hat und dann mit diesen Situationen umgehen kann.
Über welche Erkrankungen sprechen wir eigentlich? Depressionen, Angststörungen?
Ja, damit habe ich bei meiner Arbeit viel zu tun, aber auch mit bipolaren Störungen oder schweren schizophrenen Erkrankungen. Einzelne Symptome bedeuten noch keine psychische Erkrankung. Wichtig ist der Zeitraum. Wenn ich an schweren seelischen Problemen über eine längere Zeit leide, kann es zu einer psychischen Erkrankung kommen. .
Was ist für Sie Genesung?
Genesung beginnt in dem Moment, in dem ich überhaupt wahrnehme, dass mich etwas beeinträchtigt und ich das angehen will.
Vortrag und Diskussion: „Genesungsprozess bei psychischen Erkrankungen“, Tagesstätte Wichernhaus, Am Dobben 112, 16 bis 18 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen