piwik no script img

Gastkommentar Schweizer SozialdetektiveNeoliberale Abrissbirnen

Kommentar von Dimitri Rougy

Die Schweiz stimmt über die weitreichende Überwachung von Sozialversicherten ab. Es geht auch um die vergiftete Sozialpolitik im Land.

Ginge es nach den Versicherungen und der SVP, würden Sozialversicherte nirgendwo mehr unbeobachtet sein Foto: imago/Zuma Press

I m Frühling erließ das Schweizer Parlament ein Gesetz, das die weitreichende Überwachung aller Sozialversicherten ermöglichen soll – vorgeblich, um Missbrauch von Leistungen zu verhindern. Ob Kranken- oder Unfallversicherte, Rentner*innen oder Menschen mit Behinderung: Alle sollen von „Sozialdetektiven“ überwacht werden können, mit Maßnahmen wie verdeckter Videoüberwachung und detaillierten Bewegungsprofilen. An diesem Sonntag stimmen nun auch die Schweizer*innen in einem Referendum darüber ab.

Was viele Rechtsprofessor*innen zum Aufschrei zwingt: Kein Richter kann über die Maßnahme entscheiden. Und mit der Überwachung bis in Privaträume hinein erhalten die Versicherungen mehr Mittel als die Polizei und Staatsanwaltschaften. Um den Rechtsstaat kümmerte sich das Parlament bei seiner Zustimmung also nicht so sehr.

Der Überwachungsartikel steht symptomatisch für die vergiftete Stimmung in der Schweizerischen Sozialpolitik: Wer es nicht alleine schafft, dem wir auch nicht geholfen. Stetig wird der Spardruck auf die Institutionen erhöht, Leistungsbezüger*innen schikaniert, Beiträge gekürzt und Überwachungsmassnahmen verschärft. Ein bitterer Mix aus Klassismus und Fremdenfeindlichkeit feuert die Versicherungslobby und die Rechte in ihrem Feldzug gegen solidarische Einrichtungen und eine ernst gemeinte Sozialpolitik an.

Nicht ohne Grund hat Christoph Blocher, Übervater der rechtsnationalen Partei SVP, im Wahlkampf 2003 den Begriff «Scheininvalide» kreiert und mit populistischer Stimmungsmache die Empörung in der Stimmbevölkerung hochgekocht. Mit der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung schaffte er fruchtbaren Boden für massive Verschärfungen des Sozialrechts – und einen Sieg für seine Partei.

Das staatliche Gewaltmonopol würde in Frage gestellt

Das Trauerspiel der Schweizer Sozialpolitik: Institutionen, die früher als Auffangnetze für Arme, Schwache, Kranke und Alte eingesetzt wurden, werden von neoliberalen Abrissbirnen in den Parlamente zugrunde gerichtet. Schritt für Schritt. Gesetz um Gesetz.

Dimitri Rougy

studiert Kulturwissenschaften. Mit der Schriftstellerin Sibylle Berg und anderen Mitstreiter*innen hat er die Initiative „Versicherungsspione NEIN“ ins Leben gerufen, die das Referendum über das Gesetz angestrengt hat.

Deshalb haben wir eine Bürger*innen-Bewegung gegründet und über 75.000 Unterschriften gegen das Gesetz gesammelt. Am Sonntag wird nach einigen Monaten Abstimmungskampf die Schweizer Stimmbevölkerung entscheiden, ob die Versicherungen neu auch Polizeiarbeit machen sollen und wir das staatliche Gewaltmonopol damit in Frage stellen wollen.

Weder linke Organisationen noch Parteien wollten das Referendum anfangs unterstützen. Sie verwiesen auf strategische Entscheide und ließen verlauten, dass es ungeschickt sei, den Neoliberalen und Rechten mit dieser Abstimmung knapp ein Jahr vor den nationalen Wahlen in die Hände zu spielen.

Das kann eine Haltung sein. Was aber, wenn gerade jetzt die Zeit gekommen ist, nicht mehr abzuwarten und in alte wahlstrategische Muster zu verfallen, sondern die Grundrechte zurückzufordern und das zu beschützen, was doch eigentlich lange als selbstverständlich galt?

Wir können demonstrieren und Petitionen sammeln, Songs und Kolumnen schreiben. Und wir können uns vernetzen. Was es jetzt braucht, ist ein Aufstand der Zivilgesellschaft, die dafür einsteht, worauf wir uns eigentlich einmal geeinigt hatten: Eine solidarische und demokratische Gesellschaft, in der alle in Würde krank und alt sein dürfen.

Dimitri Rougy studiert Kulturwissenschaften. Mit der Schriftstellerin Sibylle Berg und anderen Mitstreiter*innen hat er die Initiative „Versicherungsspione NEIN“ ins Leben gerufen, die das Referendum über das Gesetz angestrengt hat.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare