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Vom Wohnen und Wissen

Menschen mit Behinderung, Menschen ohne: Bei Wohn:sinn finden sie zusammen. Es ist eine etablierte Plattform für inklusives Wohnen. Von derartigen Wohnmodellen können beide Seiten profitieren. In Berlin gibt es dazu bereits einen inklusiven Stammtisch

Von Judyta Smykowski

„Wo waren die Menschen mit Behinderung in den ersten 19 Jahren meines Lebens?“, fragte sich Tobias Polsfuß, der Gründer von Wohn:sinn, einer Plattform für inklusives Wohnen. Mit 19 Jahren war er in Griechenland und absolvierte dort seinen Freiwilligendienst in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung.

Zurück in Deutschland und auf Wohnungssuche, erfuhr er von der Möglichkeit, mit behinderten Menschen in einer Wohngemeinschaft zu leben. In München wohnt er seitdem mit behinderten und nichtbehinderten Menschen zusammen. Er übernimmt einmal in der Woche und an einem Wochenende im Monat einen Assistenzdienst; dafür muss er keine Miete zahlen. Diese Wohnform gibt es mittlerweile in ganz Deutschland. Wohn:sinn heißt: Bei Bedarf gibt es Mietminderung für Assistenzleistungen. Dies ist besonders für Student*innen, die weniger Geld zur Verfügung haben, eine Möglichkeit, günstiger zu wohnen. Daneben gibt es auch Wohngemeinschaften, die einfach inklusiv sind und wo jede*r Miete zahlt.

Seit 2016 gibt es das Projekt, und der 25-jährige Polsfuß betont, dass es nicht in erster Linie um die Vermittlung von Wohnraum, sondern vor allem um die Vermittlung von Wissen gehe. In ganz Deutschland ist der Student unterwegs, um Initiativen, Trägern, aber auch Privatpersonen dabei zu helfen, eigene inklusive Wohngemeinschaften zu gründen. Er selbst initiierte, aufbauend auf dem Netzwerk der Plattform, jüngst ein Bündnis für inklusives Wohnen, um aus der ehrenamtlichen Tätigkeit einen Beruf zu machen. In dem Bündnis finden sich Angehörige von behinderten Menschen, Wissenschaftler*innen, die das Thema inklusives Wohnen aus der Forschungsperspektive betrachten, und behinderte Menschen selbst, die von der Gründung einer WG und den Erfahrungen erzählen können.

Erwachsenen behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen ist ein Anliegen von Polsfuß. Eltern behinderter Menschen hätten seiner Erfahrung nach meist eine besondere Bindung an ihre ihren Kinder. Häufig gehe es in Gesprächen darum, die Eltern zu ermutigen, diese Bindung zu nutzen, um ihre behinderten Angehörigen zu empowern, statt sie daran zu hindern, unabhängig zu werden.

Polsfuß vertritt die Meinung, eine inklusivere Gesellschaft könne durchaus beim Wohnen entstehen. Bei inklusiven WG-Partys träfen angehende Lehrer*innen auf Personen mit Behinderung, zukünftige Arbeitgeber*innen ebenso. So würden durch persönlichen Kontakt Berührungsängste abgebaut.

Denn Schule und Arbeitsmarkt seien Themen, die in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit Inklusion diskutiert würden, aber dabei spiele der Leistungsgedanke eine große Rolle. Beim Wohnen gehe es hingegen erst mal nur um das Zusammenleben. Zusätzlich könnten dabei behinderte Menschen, die zuvor in einer Behindertenwohnstätte gelebt haben, in ihren nichtbehinderten Bewoh­ne­r*in­nen Inspiration und Ansporn finden, etwas anderes erreichen zu wollen.

Pierre Zinke ist ebenfalls Gründungsmitglied des Bündnisses für inklusives Wohnen und im Vorstand von Wohn:sinn. Er lebt seit Oktober 2017 in einer inklusiven WG in Dresden. Dort finde er es „verdammt toll“. Zuvor hat der 29-jährige bei seinen Eltern gewohnt.

Mit ihm leben fünf andere Menschen mit Behinderung in der WG und vier nichtbehinderte. Sein langfristiges Ziel sei es, nicht mehr in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten, sondern nach Berlin zu gehen und bei dem inklusiven Theater RambaZamba als Schauspieler sein Geld zu verdienen. Seine inklusive WG initiierte die Lebenshilfe Dresden. Die Assistenzdienste werden nicht von den Bewohner*innen übernommen, sondern von einem externen Dienstleister.

Es gibt verschiedene Modelle, wie eine inklusive WG organisiert werden kann; entweder sucht man sich einen sozialen Träger, der die Assistenzen stellt, das Geld verwaltet und somit die Wohngemeinschaft „leitet“. Laut Polsfuß liege ein weiterer Vorteil darin, dass Träger mehr Verbindungen zu Städten und Gemeinden hätten, die wiederum über passenden Wohnraum verfügen.

Die Suche nach barrierefreiem Wohnraum ist es, die den „Stammtisch inklusives Wohnen“ in Berlin umtreibt. Einer der Gründer, Jasper Dombrowski, meint: „Wir haben erst mal das Ziel, Investoren und Grundstücke zu finden, um vielleicht Mehrgenerationenhäuser zu bauen. Wir alle wissen ja, dass Wohnraum und nicht nur barrierefreier, knapp wird.“

Eine andere Möglichkeit, eine inklusive Wohngemeinschaft aufzubauen, ist das „Persönliche Budget“. Dabei handelt es sich um Geld vom Amt, das behinderte Menschen für Assis­ten­t*in­nen ausgeben können. As­sis­tent*innen stehen behinderten Menschen im Alltag und bei der Pflege zur Seite. Das persönliche Budget wird nur leider den meisten Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen nicht zuerkannt, da sie eine gesetzliche Betreuung haben, die das Geld verwaltet.

Bei Bedarf gibt es sogar Miet-minderung für Assistenzleistungen

Einen Königsweg, wie inklusives Wohnen funktionieren kann, gebe es noch nicht, meint Tobias Polsfuß. Aber zwei Dinge seien essenziell: Selbstbestimmung und Augenhöhe. In seiner Masterarbeit im Studiengang Gesellschaftlicher Wandel und Teilhabe versucht er, zu ergründen, wie inklusive Wohnformen nicht mehr nur bewunderte Modellprojekte, sondern für jeden behinderten Menschen möglich werden können.

Für ein größeres Publikum wurde Wohn:sinn sichtbar, als in diesem Jahr die Kooperation mit der Plattform wg-suche.de startete. Dort kann man nun im Inserat angeben, ob die eigene WG inklusiv ist und man offen für Menschen mit Behinderung ist. Daten dazu, wie dies angenommen wird, gibt es nicht.

Doch allein das Vorhandensein der Kategorien „inklusiv“ und „barrierefrei“ unter den Inseraten ist ein Teil des „Disability Mainstreaming“. Menschen mit Behinderung werden dabei mitgedacht und sind mitgemeint auf einer Plattform, auf der sonst auch jede*r andere ein Zimmer suchen kann.

Doch dass in Wohnstätten lebende Menschen mit Lernschwierigkeiten meist keinen Zugang zum Internet haben, mache es leider nicht wirklich einfacher, sie für eine eigenständige Wohnform zu gewinnen. Das ist schade. Denn genau diesen Menschen müsse man die Alternativen zum Wohnen in Heimen und bei den Eltern aufzeigen. Dies sei eine Aufgabe, die in den Fokus gerückt werden müsse.

Erst kürzlich verkündete das Bundesland Bayern, den inklusiven Wohnungsbau finanziell fördern zu wollen, doch Polsfuß drängt darauf, genau hinzuschauen, ob es sich wirklich um inklusives Wohnen handelt oder um den Ausbau von kleineren, aber immer noch ausgrenzenden Wohneinrichtungen. Genau dieses Modell will Wohn:sinn durchbrechen, um ein Miteinander statt Nebeneinander zu ermöglichen.

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