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zwischen den rillenWahlverwandt in sechs Akten

Colin Self: „Siblings“ (RVNG Intl./Cargo)

Auf Colin Selfs Küchentisch im Berliner Bezirk Kreuzberg liegt das neueste Buch der feministischen Sci-Fi-Theoretikerin Donna Haraway „Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene“. Man sieht ihm die ausführliche Lektüre an. Außen ist der Einband abgegriffen, innen hat Self Sätze angestrichen. Den einen bestimmt auch: „Make kin, not babies“, macht euch verwandt, verzichtet auf Babys.

Auf Selfs zweitem Album „Siblings“ findet sich der Gedanke wieder, nur anders als bei Haraway nicht im ökologischen Sinn. Self propagiert eine Humangemeinschaft, die nicht auf Blutsverwandtschaft gründet, sondern auf Zuneigung und Zuwendung, die Idee einer queeren Großfamilie. „Find the others who get it/ Who might take care of me/ Stand together as a family/ Developing, vocabulary“ heißt es in „Emblem“, einem melodischen Synthiepop-Song, der – emblematisch, wenn man so will – zusammenfasst, worum es dem US-Künstler geht: zusammenwachsen, füreinander da sein, Neues lernen, Unruhe stiften.

So hält Self es auch selbst. Ein wenig gleicht er dem Geschöpf aus der Zukunft, das Haraway im letzten Kapitel von „Staying with the Trouble“ beschreibt: Camille, halb Mensch, halb Schmetterling, empathisch mit allen Spezies verbunden. Self ist ebenso flatterhaft im besten Sinne: hin- und hergerissen zwischen U und E, Aktivist und Musiker, Komponist und Performer. Für sein neues Album arbeitete er mit so vielen Künstler*innen zusammen, dass es kaum möglich ist, alle aufzuzählen. Er selbst dürfte den meisten durch seine Kooperation mit Holly Herndon und Mat Dryhurst bekannt sein. Ebenso ist er Teil der New Yorker Drag-Supergroup Chez Deep sowie Gründer des Chorprojekts Xhoir, das in Berlin unter anderem im Rahmen der Ausstellung „Welt ohne außen“ zum kollektiven Singen und Zuhören einlud.

Alles baut aufeinander auf, auch „Siblings“ steht nicht für sich, sondern ist finaler Part einer sechsteiligen Oper, die im März im New Yorker MoMa PS1 Premiere feierte. Ja, richtig gelesen: Oper. Selfs Oper heißt „Elation“ und handelt von Queerness im Zeitalter globaler Unsicherheit. Vor sieben Jahren begann Self sie mit dem Impetus, das staubig-elitäre Image aus dem Musiktheater zu fegen, das es immer noch hat. „Mich ermutigt das, Performances zu machen, die überhaupt nicht dem entsprechen, was die meisten unter Oper verstehen“, sagt er.

Wahrscheinlich hat er deshalb seiner eigenen auch nicht klassisch drei oder fünf, sondern sechs Akte verpasst. Sein Album immerhin verfügt über einen klaren Höhepunkt. Und was für einen: Im Stück, „Stay with the Trouble for Donna“ prasseln einem die Technobeats nur so um die Ohren. Den Song hat er Haraway direkt gewidmet. Mit klarem Hintergedanken: „Ich wünsche mir, dass meine Hörer*innen nach dem Titel im Netz suchen, so auf Haraway aufmerksam werden und anfangen ihre Bücher zu lesen“, sagt Self. Das Internet ist der natürliche Lebensraum des 31-Jährigen. So verwundert es kaum, wenn er erzählt, wie er auf gut Glück Textzeilen bei Google Translate eingab, auf Latein übersetzen ließ, um sie dann wieder in den Text einzubauen.

Überhaupt lässt sich die Abfolge der Songs auf dem Album am ehesten als collagenhaft beschreiben. Da treffen Chorgesänge auf Techno, Field Recordings auf Autotune, Arien auf Pop. Vielleicht könnte man „Siblings“ vorwerfen, dass es zu heterogen sei, aber eigentlich passt das ins Bild des „Troublemakers“. Klare Antworten auf die Frage, die Self aufwirft, gibt es eben keine, aber immerhin Hoffnung. Wenn das keine guten Aussichten sind. Beate Scheder

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