Die Wahrheit: Aufgekratzte Euphorie
Sprachkritik: Die seltsame Wandlung mancher Fremdwörter im extrem anpassungsfähigen Deutschen nimmt immer verblüffendere Ausmaße an.
Anders als der Name suggeriert, lehrt das physikalische Gesetz der Trägheit, dass eine Masse in Bewegung ist. Auch die Sprache kennt keinen Stillstand, sonst spräche man hierzulande heute noch Mittel- oder gar Althochdeutsch, ja Germanisch oder sogar Indoeuropäisch, ach was: Die Deutschen würden sich durch Urlaute verständigen wie der soeben dem Affentum entflohene erste Mensch.
Veränderungen, die sich in der Vergangenheit vollzogen haben, nimmt man als selbstverständlich hin. Noch vor wenigen Jahrzehnten war „nichtsdestotrotz“ ein Ulkwort, während das damit parodierte „nichtsdestoweniger“ heute viele Leute „überkommen“ dünkt, das neuerdings „veraltet“ bedeuten kann.
Kurios ist vor allem die Wandlung, die Fremdwörter erfahren haben. Die deutsche Sprache hat Erstaunliches geleistet, um die Einwanderer zu integrieren: Der seriöse „Stil“ ebenso wie der hippe „Style“ gehen auf lateinisch „stilus“ zurück, den Schreibgriffel. Die „Ampel“ lässt sich über die Ampulle, die im Mittelalter mit Öl gefüllt als ewiges Licht in der Kirche leuchtete, auf die griechische „amphora“ zurückführen. Der „Skandal“, griechisch „skandalethron“, bezeichnete das Hölzchen oder den Hebel, der eine Mausefalle zuschlagen ließ, dann einen Fallstrick.
Vom Baumzweig zum Klon
Beim „Klon“, der im Griechischen zuerst ein „Baumzweig“, dann ein „frischer Trieb“ und schließlich der „Setzling“ war, scheint die Entwicklung vorerst an ein Ende gekommen zu sein. Bei vielen Wörtern ist die Sache noch in Bewegung. Eine „Expertise“ ist nicht mehr allein ein Gutachten, sondern bedeutet für immer mehr Leute auch: Fachwissen. Die „Biografie“ steht nicht mehr allein für den geschriebenen Lebenslauf, sondern für die eigene Lebensgeschichte – sie bezeichnet das Leben selbst, das anscheinend als Gegenstand bürokratischer Verwaltung betrachtet und zur Datei wird, um im Konkurrenzkampf gegen die anderen Lebenden verwurstet zu werden.
Oder die „Mission“, die jahrhundertelang eine religiöse Bedeutung hatte: Gemäß lateinisch „mittere“ (schicken, gehen lassen) handelte es sich um die „Entsendung christlicher Glaubensboten“ in die heidnische Fremde. Inzwischen bezeichnet sie auch die Entsendung von Soldaten ins feindliche Ausland; und weil das Ziel der kirchlichen Mission die „Verkündung des rechten Glaubens unter Andersgläubigen“ war, benennt das Wort auch den militärischen Auftrag: „Auf der anderen Seite sieht Israels Militär die Mission der Scharfschützen, auf jeden zu schießen, der sich der Grenze nähert, als präventive Sicherheitsmaßnahme“ (taz).
Ja, die Mission muss weder kirchlich noch militärisch sein: „Meine Mission war, diese Entführungsgeschichte besprechbar zu machen“, erklärt Johann Scheerer, Sohn des gekidnappten Jan Philipp Reemtsma und Autor des Buchs „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, im taz-Interview. „Unsere Mission ist es, die Gesundheitsdaten der Welt nutzbar zu machen“, bringt eine Kardiologin im Spiegel das Ziel der Google-Firma Verily auf den Punkt. Vodafone wirbt sogar raffiniert mit dem Spruch: „Deine Privatsphäre – unsere Mission“. Sehr richtig: Die Mission der Firma besteht in deinen Daten.
Die Bedeutungserweiterung, nicht die Präzision liegt im Trend. Das muss kein Nachteil sein. Die „Olympiade“ etwa: Im Altgriechischen bezeichnete sie die Zeitspanne zwischen den Olympischen Spielen, heute belegt man auch das Sportfest selbst (und andere wie die „Schacholympiade“) mit dem Wort. Warum auch nicht? Auf der alten Wortbedeutung zu beharren hieße, auf Deutsch Altgriechisch reden zu sollen.
Von Bejahung bis Einverständnis
Mehr als nur zweierlei Bedeutung angenommen hat die altgriechische „Euphorie“ (eigentlich: gelöste Stimmung, Heiterkeit): Sie deckt mittlerweile von Zustimmung, Zuversicht und Zufriedenheit bis Freude, Begeisterung und Hochstimmung sämtliche Facetten von Bejahung und Einverständnis ab. Auf Beispiele kann verzichtet werden, denn vor allem in der Sportberichterstattung ist die „Euphorie“ allgegenwärtig.
Ebenso gern genommen wird die „Motivation“ alias Ansporn, Anlass, Grund, Ursache und überraschenderweise auch Ziel („Die Olympiade ist meine Motivation!“); die vielseitige Verwendbarkeit ist es, die zum Gebrauch „motiviert“ und nebenbei den Satzbau verändert: Statt „Was motiviert Sie, das Wort Motivation zu verwenden?“ hätte man früher eine einfache „Warum“-Frage gebildet.
In der Regel vollzieht sich der Wandel unmerklich und unbemerkt. Dafür ist das Adjektiv „notorisch“ ein Beleg, das eigentlich „bekanntlich“ bedeutet, aber inzwischen meist im Sinn von „dauernd, ständig, wiederholt“ verwendet wird wie im Fall „der von Sozialdemokraten notorisch ignorierten ökologischen Wende“ (taz).
Tja, die notorische SPD … Die notorische Glossiererei hingegen sorgt bei Ihnen hoffentlich für „eine aufgekratzte Euphorie“, wie NDR Info verlauten ließ.
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