heute in bremen: „Die Erinnerung wurde zerstört“
Yulia Kovalenko, Kulturwissenschaftlerin und Videografin, Dozentin an der polytechnischen Universität Odessa.
Interview Klaus Wolschner
taz: Frau Kovalenko, gibt es in der Ukraine biografische Geschichten zurückgekehrter Zwangsarbeiter?
Yuliia Kovalenko: Das ist in der Ukraine ein schmerzhaftes, schwieriges Thema. Im Massendiskurs fehlt es weitgehend. Aber es ist wichtig, um die eigene Geschichte zu verstehen. Wir müssen lernen, dass nicht alle „Ostarbeiter“ gewaltsam nach Deutschland verschleppt wurden. Es gab auch die Freiwilligen, die an die massive Propaganda geglaubt haben. Natürlich gab es dann auch viele Zwangsdeportationen.
Seit wann wird das erforscht?
Solche Forschungen sind heute möglich, weil der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er die sogenannten Filtrationssachen den Staatsarchiven übergeben hat, sodass zumindest nachvollziehbar ist, wie die Deportation der Ostarbeiter organisiert wurde und wer in die Ukraine zurückgekehrt ist.
Nach ihrer Rückkehr haben die Zwangsarbeiter nicht viel erzählt?
Bremen und seine ukrainischen Zwangsarbeiter - Vorführung ukrainischer und deutscher Kurzfilme und Diskussion: 19 Uhr, Europapunkt
Sie wurden als Kollaborateure verdächtigt und wenn sie nicht in sogenannte Filtrationslager kamen, haben sie vorsichtshalber geschwiegen. Die Erinnerung an die ukrainische Geschichte wurde gezielt absichtlich zerstört – es war unmöglich, darüber außer im Einklang mit dem offiziellen Bild der Sowjetunion zu sprechen. Ich selbst bin Mitte der 1990er-Jahre in Schulen gegangen, in denen noch alte sowjetische Lehrbücher normal waren.
Sie haben einen Film über die heutigen Erinnerungen an die Zwangsarbeiter-Vorfahren gedreht. Was haben Sie dabei erlebt?
Ich habe erlebt, wie schwer es ist, darüber zu sprechen. In Kostjantyniwka haben wir mit der Schwiegertochter einer verstorbenen Ostarbeiterin gesprochen – sie hat uns vom tragischen Schicksal dieser Frau erzählt, die offenbar in Deutschland auf ihren Arbeitsplätzen vielmals geschlagen wurde, und dann kamen die deutschen Behörden und verlangten für die „Anerkennungszahlung“ Dokumente. Von den mehr als zwei Millionen ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeitern haben etwas über 470.000 Menschen solche Zahlungen erhalten. Man hat uns in Kostjantyniwka von 400 oder 500 Euro erzählt, die in zwei Schritten ausgezahlt wurden, an Ostarbeiter, die seit 1942 zur Arbeit gezwungen wurden und 1945 nach Hause zurückgekommen waren. Das ist furchtbar zynisch und trotzdem waren die Zahlungen ein Anlass, über diese Seite der Vergangenheit zu reden – nach jahrzehntelangem Totschweigen.
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