Gastkommentar Jan Lorenz übers Wahlrechtsbegehren: Die Gefahr der Abwahl durch Zustimmung
Jan Lorenz, 42, promovierter und habilitierter Mathematiker und Sozialwissenschaftler, ist Faculty Member am Graduiertenkolleg der Sozialen Wissenschaften (BIGSSS), wo er zu Meinungsdynamik und kollektiven Entscheidungen forscht.
Bis zum 12. November müssen 24.380 Unterschriften zusammen sein. Nur dann müsste sich die Bürgerschaft mit dem neuen Wahlrechts-Entwurf von „Mehr Demokratie“ ernsthaft befassen. In den sozialen Medien hat das gerade schon Fahrt aufgenommen. Beliebte Videos des Volksbegehrens wurden inzwischen von mindestens drei Mitgliedern der Bürgerschaft kritisch kommentiert. Das Thema ist komplex. Einerseits stimmt die Kritik von Mehr Demokratie: Die von SPD, CDU, Grünen und Linken durchgesetzte Wahlrechtsreform könnte den Einfluss der Personenstimmen fast verschwinden lassen. Andererseits sind einige Kritikpunkte am alten Wahlrecht, die zur Reform geführt hatten, durchaus bedenkenswert.
Unbekannt ist allerdings, dass immer mehr Wähler*innen alle fünf Stimmen auf eine Person jenseits der Spitzenplätze kumulieren. 2015 waren es fast 6.000 mehr als 2011. Wähler*innen, die panaschieren, werden aber nicht mehr. Und die Anzahl derjenigen, die nur Listen wählen, ist um über 20.000 gesunken. Das hat Einfluss auf den Erfolg von Kandidat*innen: Diejenigen, die ein Personenmandat gewinnen, bekommen öfter alle fünf Stimmen und brauchen viel weniger Wähler*innen als Kandidat*innen, die differenzierende Wähler*innen ansprechen. Das ist vermutlich, was viele in den Parteien am Wahlrecht verstört hat, auch diejenigen, die die Personenwahl befürworten.
Kumuliert wird dabei oft nur strategisch. Vor der Wahl 2015 hatte ich eine ganze Liste von Personen, die ich unterstützen wollte. In der Wahlkabine dachte ich dann: Die oben kommen eh rein und bei denen unten sollte ich mich für eine entscheiden, damit das wenigstens klappt. Ich hab also kumuliert, obwohl ich panaschieren und differenzieren wollte. 2019 werde ich vor dem gleichen Problem stehen. Die Reform hat also nichts verbessert! Der richtige Reformschritt wäre, die Kumuliermöglichkeiten zu begrenzen. Dies würde dem innerparteilichen Konkurrenzdruck um Personenstimmen den Druck aus dem Kessel nehmen.
Dies wird auch im Volksbegehren nicht vorgeschlagen. Das Volksbegehren ist dennoch unterstützenswert, denn es schafft einen irrsinnigen Effekt der Listenmandate ab: Personenstimmen können den Mandatserwerb verhindern! „Verfassungsrechtlich höchst bedenklich“, nannte das der Wahlrechtsausschuss der Bürgerschaft beim alten Wahlrecht. Er unterschlägt allerdings, dass das auch auf die eigene Reform zutrifft, in gewissem Sinne sogar in verschärfter Form! 2015 hätte es nach neuem Wahlrecht zwei Beispiele gegeben, in denen mehr Personenstimmen zum Mandatsverlust geführt hätten. Personenstimmen werden also nicht nur häufiger wirkungslos sein, sie können schaden. Das geht nicht.
Bei einem erfolgreichen Volksbegehren, hätte die Bürgerschaft die Möglichkeit, einen verbesserten Alternativvorschlag zum Volksentscheid vorzulegen. Über beide Gesetzentwürfe könnte man dann mit JA oder NEIN abstimmen und durch eine Stichfrage kennzeichnen, welchen der beiden man besser findet. Schon allein, um das nicht abzuwürgen, ist mein Rat: Unterschreiben!
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