: Diese Musik ist nicht unschuldig
RADIALSYSTEM Haydn und Musik für ein WC: Das „Nordlichter“-Festival zeigte am Wochenende, wozu Musik fähig ist
Später am Abend macht sogar das Salz mehr Sinn. Das kann am Alkohol liegen, der in der einstündigen Pause zwischen den Konzerten angeboten wird. Aber was wäre der Wein schon ohne Gesang.
Im Radialsystem sind die „Nordlichter“ los. Das Festival, das neue Musik aus den nordischen Ländern nach Berlin holt, setzte mit diesem ersten Abend am Freitag einen deutlichen Schwerpunkt in Sachen Vokalmusik. Der Anfang allerdings ist verstörend. Ein großer Salzhaufen, auf dem die norwegische Sängerin Tora Augestad thront, nimmt den Saalhintergrund ein. Vorne rieselt Salz fein aus einem Eimer, der vor der Musikerin Camilla Barratt-Due und ihrem Akkordeon hängt. Auf einem weiteren Haufen liegt ein WC-Becken aus Porzellan; noch ein Klo steht neben der Akkordeonistin.
Übrigens ist eine Kloschüssel kein sehr dankbares Percussioninstrument, wird sich zeigen, nicht einmal, wenn es elektronisch verstärkt wird. Und obwohl es als „euphonische Toilette“ im Programmheft geführt wird, sind es keine Wohlklänge, die es erzeugt.
Der Berliner Timo Kreuser ist mit dieser Produktion weit über den üblichen Kompositionsauftrag hinausgegangen. „Screams“ ist eine synästhetische Gesamtperformance. Während die Sängerin disparate Töne skandiert, erzeugt die Instrumentalistin auf ihrem Knopfinstrument die Extremlaute, die jenes hergibt; selten einmal zwei verschiedene hintereinander. Später sitzt sie mit Akkordeon auf der Kloschüssel und fängt ihrerseits an zu schreien. Es ist recht rätselhaft, und, ja, möglich wäre die beim Wein entwickelte Theorie schon, dass es sich bei dem Tunnelobjekt auf der Bühne um einen Geburtskanal handelt, aber das kann ja jeder für sich anders empfinden.
Wer das Ausbleiben von Euphonie bis dahin als unbefriedigend empfunden haben sollte, wird gründlich entschädigt, vielleicht auch erleuchtet, durch den eindrucksvollen Auftritt des Danish National Vocal Ensemble und des Sonar Quartetts aus Berlin anschließend. Die Komposition „Dixit dominus“ des Schweden Thomas Jennefeldt wird umrahmt und vorbereitet von Auszügen aus Haydns „Die 7 letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“ sowie einem filigran flirrenden Streichquartett des Dänen Bent Sørensen und einem anderen „Dixit dominus“, das vor vier Jahrhunderten von Monteverdi komponiert wurde. Die ungebrochene Harmonie- und Glaubenstreue Monteverdis steht in scharfem Kontrast zu der 2009 uraufgeführten Komposition des Schweden, die in Gedenken an die Opfer des Massakers von Srebrenica entstand.
Jennefeldt kombiniert für sein Stück den kriegerischen Text des Psalms 110 mit der Kreuzzugsrede des Papstes Urban II., und zeigt dabei auch, wozu Musik fähig sein kann. Denn diese Musik ist nicht unschuldig. Es gibt kontemplative, trauernde Passagen, doch dazwischen immer wieder den großen, gewalttätigen Gestus, dessen Rausch man sich nicht entziehen kann. Geradezu totalitär drücken die Klänge aufs Trommelfell, was nur zum Teil mit der erheblichen Phonstärke zusammenhängt, die die Musiker unter dem Dirigat von Olof Boman produzieren. Es scheint fast, als erzeuge ein extrem konzentrierter Reibungswiderstand zwischen den Tönen eine dieser Musik immanente akustische Gewalt. Nein, euphonisch ist das auch nicht wirklich. Es ist erschreckend schön.
KATHARINA GRANZIN
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