: Volkslied und Experiment
Die dritte Ausgabe des Scope Festivals ist nicht nur geografisch, sondern auch stilistisch weiter gefasst als in den letzten Jahren und eröffnet etwa mit dem Indierock-Trio Peter Bjorn and John – Freunde experimentellerer Klänge kommen dennoch auf ihre Kosten
Von Stephanie Grimm
Das Scope-Festival kommt in sein drittes Jahr – und macht seinem Namen mehr denn je Ehre. Übersetzt heißt Scope so etwas wie Umfang, Tragweite, Spielraum – und wenngleich das Programm auf den ersten Blick weniger experimentell und forschungslustig daherkommt als in den Vorjahren, haben Florian Burger, der das Festival veranstaltet (sonst verantwortlich für das ebenfalls eklektizistische XJazz), und sein Mitstreiter Matti Nives, Mitbegründer des finnischen Labels We Jazz Records, den Spielraum ihres Programms erweitert.
Während der Fokus im ersten Jahr auf Finnland lag und im zweiten Jahr die thematische Klammer noch Experimentelles aus Skandinavien lautete, ist das Booking diesmal nicht nur geografisch, sondern auch stilistisch weit gefasst. Immerhin eine Band gibt es aus dem hohem Norden, nämlich die Schweden von Peter Bjorn and John. Die erklärten Stone-Roses-Fans haben der Welt mit „Young Folks“ einen Hit beschert, den wohl jeder beim zweiten Hören mitpfeifen kann, sind also eine Konsensband, wie sie im Buch steht.
„Die Idee war von Anfang an, nicht nur Jazz und Experimentelles zu machen, sondern auch Schätze auszugraben“, erklärt Burger. „Das Festival ist ein Liebhaberprojekt, wir buchen vor allem, was uns selbst gefällt. Ich bin langjähriger Fan von Peter Bjorn and John. Sie haben wirklich interessante Songs, jenseits ihres großen Hits. Und live ist diese Band phänomenal. Da sie schon lange nicht in Berlin gespielt haben, war es mir ein Anliegen, sie herzuholen.“ Das Indierock-Trio wird am Samstagabend das Große Haus der Volksbühne bespielen.
Freunde experimentellerer Klänge kommen bei Scope in diesem Jahr dennoch auf ihre Kosten, etwa beim Auftritt des in Berlin lebenden Saxofonisten Otis Sandsjö, der zusammen mit dem Keyboarder Elias Stemeseder (der auch schon mit dem US-amerikanischen Avantgarde-Komponisten John Zorn spielte), dem Schlagzeuger Tilo Weber und Bassist Frans Petter Eldh Frummer das Projekt Y-OTIS vorstellt. Mit dem versucht die Combo den Spagat zwischen einer freien Klangästhetik, die dem Zuhörer ein elastisches Gefühl von Zeit vermittelt, und einem tanzbaren Drive. Zusammengehalten werden diese beiden Elemente durch Sandsjös Saxofonspiel. Er selbst nennt diese eigenwillige Mixtur „experimentelle, instrumentale Beatmusik“. Ziemlich toll und hörenswert ist es auf jeden Fall und zu erleben gleich am Donnerstag zum Warm-up im Auster Club.
Ebenfalls an dem Abend spielt das Contrast Trio im Silent Green auf. Die Gewinner des Hessischen Jazzpreises 2016 haben ihren Elektro-Jazz-Fokus durch die Zusammenarbeit mit einem Chor aus der Ukraine folkloristisch erweitert. „Letila Zozulya“ heißt das daraus entstandene Album. Was das Sprengen von Genre-Grenzen angeht, ist dieses Projekt weit vorne – ohne dass das Ergebnis bemüht klingt. Grundiert werden die Stücke durch eher repetitive Patterns, die an Minimal Music erinnern und für eine angenehm unaufgeregte, trancige Grundierung sorgen.
Auch der Sonntag wird experimentell, aber klassischer. Da spielt zum einen Sven Helbig mit dem Forrklang Quartet. Der wegen seines Händchen für Cross-Genre-Projekte gefragte Komponist aus Eisenhüttenstadt bringt in seiner Arbeit experimentelle Elektronik – mit Field Recording arbeitet er ebenso wie mit Noise und düsteren Sounds – mit Klassik und Chormusik zusammen. Burger ist ein großer Fan seiner Arbeit: „Was ich an ihm schätze: Er kommt immer wieder mit neuen Projekten an und die besitzen immer eine hohe Qualität.“
Damit das auch so beim Publikum ankommt, muss in der Umbaupause, bevor Helbig mit dem Forrklang Quartet auf die Bühne gehen wird, noch mal der Klavierstimmer ran. Darauf hatte der Booker bestanden. Schließlich spielt vor ihm Lubomyr Melnyk, der nicht nur bereits 120 Stücke komponiert hat, sondern der zudem der wohl schnellste Pianist der Welt ist – und bisweilen sehr leidenschaftlich in die Tasten haut. Der in Kanada aufgewachsene Ukrainer stellte in den 80er Jahren zwei Weltrekorde auf, die unter Beweis stellen, dass er 19,5 Noten pro Sekunde spielen kann – was mehr ist, als das menschliche Ohr wahrnehmen kann. Insofern ist das ein etwas alberner Rekord, doch die Dichte der Töne sorgt bei Melnyk für ein ganz eigenes Flirren. Kein Wunder, dass seine Musik – Minimal Music bringt er mit Spätromantik und Jazz zusammen – Assoziationen zu Naturphänomenen weckt, insbesondere zum Wasser: Der eigenwillige Mann, der erst vor wenigen Jahren in Europa entdeckt wurde, bezeichnet seine Klangwelten selbst als „Continuous Music“. Er hat mehrere Abhandlungen darüber geschrieben, was das genau bedeutet, und ist ein wandelndes Beispiel dafür, dass sich ein langer Atem beim Verfolgen einer kreativen Mission lohnen kann. Anfang Dezember, kurz vor seinem 70. Geburtstag, erscheint das neues Album „Fallen Trees“, zu dem er sich nach eigenem Bekunden vom gefällten Bäumen anregen ließ, die in seiner Wahrnehmung allerdings noch lange nicht tot waren.
Ein bisschen schade nur, dass dieses Festival, was so schön Spielräume eröffnet, nicht im engeren Sinne als Festival angelegt ist, dass man sich also vorher entscheiden muss, wo man hingeht – und sich nicht einfach trieben lassen kann, vom Naturphänomen zum ukrainischen Volkslied.
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