: Mildtätig seit dem Mittelalter
Weltweit einzigartig ist die Vielfalt der Wohngänge und Höfe im Weltkulturerbe Lübeck, sämtlich Überreste mittelalterlichen Städtebaus, zugleich aber auch frühe Zeugen des sozialen Wohnungsbaus in der Hansestadt. Heute sind sie oft begehrte Miet- und Ferienwohnungen – und alles andere als günstig. Doch es gibt immer noch Ausnahmen, wie eine Stadtführung zeigt
Aus Lübeck Sven-Michael Veit
Bisweilen ist es ratsam, den Kopf einzuziehen. Nur knapp 1,50 Meter ist er hoch, der schmale Durchlass im Erdgeschoss des Fachwerkhauses in der Gasse Engelswisch. Dunkelgrüner Gang heißt er, und er ist der niedrigste unter den etwa 90 Gängen in der Lübecker Altstadt, die noch erhalten sind. Die meisten sind frei zugänglich, einige jedoch über Nacht verschlossen, nur zwei sind nicht zu betreten.
Auf große und kleine, weite und enge Innenhöfe führen die Durchlässe, und wenn auch ihre Höhe sich nach den Maßen des jeweiligen Vorderhauses richtet, ist ihre Breite normiert. „Mindestens so breit wie ein Sarg musste jeder Gang sein“, sagt Stadtführerin Esther Bahrs, das sei die Vorgabe der Lübecker Ratsherren gewesen. Denn längst nicht jeder, der auf eigenen Beinen hinein ging, kam auf gleiche Weise auch wieder heraus.
Weltweit einzigartig ist die Vielfalt der Gänge und Höfe im Weltkulturerbe Lübeck, sämtlich Überreste mittelalterlichen Städtebaus, zugleich aber auch frühe Zeugen sozialen Wohnungsbaus. Tagelöhner, Träger oder die Beschäftigten des Gewerbes, das im Vorderhaushaus ausgeübt wurde, wohnten hier, Spinnrademacher Gang oder Schornsteinfegergang zeugen davon. Die allermeisten indes waren Stiftungen wohlhabender Bürger und verewigten den Namen des ach so großherzigen Mäzens: Carstens Gang oder Höppners Gang zum Beispiel.
Die dicht bebauten Gassen und Hinterhöfe entstanden, als Lübeck zur „Königin der Hanse“ aufstieg. Die Altstadt auf dem Hügel zwischen Trave und Wakenitz hinter der Stadtmauer und den wuchtigen Toren, von denen nur noch das Burgtor und das weltberühmte Holstentor erhalten sind, konnte nicht mitwachsen. Zur Blütezeit war Lübeck mit 26.000 Einwohnern nach Köln die zweitgrößte Stadt Deutschlands, heute leben in der Altstadt nur noch halb so viele Menschen.
Damals erwarb man nach einem Jahr das Recht, in der Stadt zu wohnen, erzählt Esther Bahrs, alle seien hereingelassen worden hinter die schützenden Mauern. Deshalb wurden Durchgänge in die Vorderhäuser gebrochen und die lang gestreckten Grundstücke mit sogenannten Buden bebaut. Dicht aneinander gedrängt auf Eckgrundstücken, an den Rückseiten der Bürgerhäuser oder im inneren Bereich der Wohnblöcke standen diese damals ein- oder zweistöckigen, oftmals mit nur einem Zimmer ausgestatteten Bauten in den Gängen.
Die Sache mit der Hygiene
Die kleinste dieser Buden, in der Hartengrube 36, hatte eine Frontlänge von 3,45 Meter, eine Breite von 4,65 Meter und eine Höhe bis zum Dachfirst von 4,95 Meter. In einer Bude wohnten bis zu 20 Menschen, erzählt Bahrs.
Im engen Schlachtergang hinter der Engelsgrube unweit der altehrwürdigen Schiffergesellschaft der lübschen Seefahrer stehen noch heute zehn dieser Buden. Vor Jahrhunderten lebten an die 100 Menschen hier, der schmale gepflasterte Gang vor den Häusern ist noch immer zur Mitte geneigt – die Blutrinne für die hier geschlachteten Tiere führte zum Ende des Hofes, wo der Donnerbalken stand. Mit der Hygiene war das so eine Sache seinerzeit.
Mittelalterliche Buden indes sind kaum noch erhalten, da sie zunächst aus Holz gebaut wurden. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts begann man, auch steinerne Buden zu errichten. Schnell hatten die Kaufleute, die begüterte Mittelschicht und die Kirche erkannt, welch geldspendende Quelle ein Haus mit einem ausgebauten Hof darstellte. Denn es war dem Hausbesitzer überlassen, wie viele Familien er in die winzigen Wohnungen presste und wie viele Buden er hinter seinem Hause errichten ließ.
Da blieb Mietwucher nicht aus, so ist es auch heute wieder: Lübeck ist sowohl bei Touristen beliebt als auch eine „wachsende Stadt“. Viele Wohnungen in den Höfen werden inzwischen als Ferienwohnungen angeboten, was vermehrt zu Konflikten mit den Einwohnern führt. Urlauber, die in den engen Gängen die Nächte durchfeiern und Müll hinterlassen, sind inzwischen vielen ein Ärgernis. Und die Mieten steigen dramatisch: Unter 500 Euro pro Woche ist kaum eine Ferienwohnung zu bekommen, im wenig imposanten Schlachtergang wurde kürzlich eine 22 Quadratmeter kleine Mietwohnung für 750 Euro Kaltmiete angeboten.
Der boomende Tourismus führt aber auch zu wachsendem Interesse an Lübecks Geschichte und Architektur. Etwa 400 Rundgänge zu elf verschiedenen Themen bietet die Stadtführungsagentur K3 pro Jahr an: Architekturführungen natürlich in dieser Stadt der Backsteingotik, ein Thomas-Mann-Rundgang selbstredend oder eben Höfe und Gänge.
Mit rund 5.000 TeilnehmerInnen in 2018 rechnet Klaus Irle von K3 in diesem Jahr, seit Jahren wächst die Zahl. Zu 90 Prozent seien die TeilnehmerInnen Deutsche: „Zu etwa gleichen Teilen Lübecker, Schleswig-Holsteiner und Touristen aus dem sonstigen Deutschland.“ Mit dem internationalen Publikum indes hapere es noch. Die Nähe zur „Weltstadt Hamburg“ sollte besser genutzt werden, findet Irle, auch die Gemeinsamkeiten mit anderen Ostsee-Städten: „Hier gibt es Möglichkeiten zu kooperieren.“
Heute, an einem sonnigen Donnerstag Ende September, sind es sechs Menschen, die sich Lübecks Hinterhöfe zeigen lassen. Aus Frankfurt/Main und dem Ruhrgebiet kommen sie, um Urlaub zumachen, in der Hansestadt selbst oder in den nahen Ferienorten an der Ostsee. Doch wenn es zum Baden langsam zu kalt wird, wächst das Interesse an Historischem. Von der ehemaligen Armenspeisung im Qualmanns Gang erzählt Esther Bahrs. Registrierte arme EinwohnerInnen bekamen eine Schüssel und einen Löffel und konnten sich fünf Mal die Woche Essen abholen, meist Graupen- oder Hirsebrei. Etwa 1.250 Portionen wurden in dem großen Kessel unter freiem Himmel zubereitet – „und wenn jemand starb“, sagt Bahrs, „gab er den Löffel ab“.
Zwei Stiftungshöfe nur für Witwen
Bahrs ist eine von elf Stadtführerinnen bei K3, seit zweieinhalb Jahren macht sie die Touren und hat immer noch Spaß dabei. Zuvor hat die Reiseverkehrskauffrau in Irland gelebt und gearbeitet, 15 Jahre lang hat sie Touristen auf der Halbinsel Dingle an der Westküste und durch die Touristenhochburg Killarney geführt. Jetzt lebt sie wieder an der norddeutschen Ostküste.
Zu den prächtigsten Hinterhöfen zählen zwei Stiftungshöfe an der Glockengießerstraße, im Rücken zweier Museen für große Söhne Lübecks: Willy Brandt und Günter Grass. Der Füchtingshof von 1632 und der Glandorpsgang von 1612 wurden aus dem Nachlass wohlhabender Kaufleute errichtet. Der Ratsherr Johann Füchting bestimmte ein Drittel seines Erbes „zum Nutzen und Besten der Armen“. Als Gegenleistung erhoffte sich der Stifter einen „guten Platz im Himmel“. Bestimmt waren die 28 Wohnungen zumeist für Witwen, noch heute sind sie günstig an über 65-jährige Frauen mit Wohnberechtigungsschein vermietet – saniert und mit Strom, Bad und WC. Dafür fehlen die Portiersfrauen, die einst unziemliche Herrenbesuche unterbanden.
K3-Stadtführungen: www.k3.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen