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Der Krieg und das Elend der Marmeladenmütze

Die Gefühle und Ohnmacht eines Kriegsgefangenen rekonstruiert das Deutsche Auswandererhaus als Ausstellungsexperiment: Da gibt es ganz traditionell Originalbriefe und Relikte hinter Glas – aber auch Vermittlung per Virtual Reality

Kein Sympath, dieser August Schlicht, hier im Jahr 1901 als Freiwilliger. Aber ein gutes Beispiel für jene Zwangsmigration, die so prägend war für das 20. Jahrhundert – Kriegsgefangenschaft und Verschleppung Foto: Sammlung Deutsches Auswandererhaus

Von Benno Schirrmeister

Es geht nicht um Zuneigung, und deswegen ist August Schlicht ein guter Protagonist für das Ausstellungsexperiment. Es geht im Deutschen Auswandererhaus (DAH) immer schon auch darum, den inneren Aufruhr der Gefühle nachzuempfinden, sie als eine Dimension der Geschichte entdecken zu lassen durch die Besucher*innen. Und dafür ist das Leben dieses einfachen Hamburger Soldaten eine tolle Vorlage, denn so richtig sympathisch kommt er nicht rüber.

Auch nicht als Ekel, bitte nicht missverstehen! Aber August Schlicht lernen die Besucher*innen hier einzig in einer Zwangslage kennen: als Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs. Und Zwangslagen verändern Menschen – nicht nur zum Guten: Die Briefe, die der Hamburger da in seiner Not nach Hause schreibt sind durchzogen von einer merkwürdig richtungslosen Umtriebigkeit und von einem Selbstmitleid, die keine Liebe schaffen können und jede Identifikation verhindern. Zum Beispiel wünscht sich Schlicht von seiner Frau eine Mütze, monatelang immer wieder: Sie solle ihm eine neue Mütze schicken, in jedem Brief aufs Neue schreibt er über die Mütze, mit allen Details, wie sie auszusehen hat, die Mütze.

Und als sie schließlich ankommt, in Sibirien, ist das Marmeladenglas zerbrochen und der Hering hat gesapscht und die Mützenlitzen sind auch die falschen, dabei hatte er doch ausdrücklich geschrieben, sie solle nur beim Militärausstatter kaufen, und beim Waschen läuft das Ding auch noch ein. Und diese Vorkommnisse um seine Kopfbedeckung verdichten sich zu bitteren Kränkungen, über die sich Schlicht nur mit Fotografien vom Ostseestrandurlaub in Damp hinwegtrösten kann. Und mit Vorwürfen, die einfach raus müssen.

August Schlicht war gleich zu Beginn des Russlandfeldzugs in Gefangenschaft gekommen. Als er im Januar 1921 aus Sibirien heimkehrte, war der Zahnkünstler – ein heute untergegangener Boom-Beruf des frühen 20. Jahrhunderts, irgendwo zwischen Zahntechniker und Zahnarzt – 40 Jahre alt und nierenleidend. Sechseinhalb Jahre später starb er.

Außer einer Tochter sind die 250 Briefe aus der Internierungszeit das Wichtigste, was er hinterlassen hat. Sie bilden, zusammen mit Fotos und Erinnerungsstücken, den Korpus der DAH-Kabinett-Ausstellung „Kriegsgefangen. Ohnmacht. Sehnsucht. 1914–1921“. Die leuchtet noch bis Ende November den Fall Schlicht als Beispiel für jene Zwangsmigration aus, die so prägend war für das 20. Jahrhundert: Allein im Ersten Weltkrieg wurden bis zu acht Millionen Männer gefangen genommen und in Lager irgendwo fern der Heimat verschleppt.

Von seiner Frau wünscht sich der Gefangene eine neue Mütze: Sie solle ihm eine schicken, schreibt er immer wieder, und wie sie auszusehen habe

Dabei ist laut Museumsdirektorin Simone Eick wichtig, dass Kriegsgefangenschaft Gedanken, Emotionen und Handlungen auslöst, „die man vor allem erzählen und nicht allein durch Objekte zeigen kann“. Deshalb probiert das Bremerhavener Museum im Fall Schlicht nun etwas aus: Es arbeitet mit Virtual Reality (VR); es testet, wie Besucher*innen die technische Rekonstruktion der Erfahrung erleben, und welche Möglichkeiten sie für die weitere Museums- und Ausstellungsarbeit bietet.

Zwei Räume gibt es deshalb nun in doppelter Ausführung: einmal mit klassisch in Vitrine präsentierten Original-Relikten, Fotos und gerahmten sowie für die Hörinsel vertonten Dokumenten. Und noch einmal als computeranimierte und von Sounddesigner Wolfgang von Henko klanglich zurückhaltend gestaltete digitale Wirklichkeit: eine Tundralandschaft und ein zerebrales System, in die nun die Abbilder der Objekte projiziert und die Dokumente hineingelesen werden.

Für die Studie werden Proband*innen außerhalb der regulären Öffnungszeiten so durch die Ausstellung geführt, dass sie jeweils nur die eine Hälfte erleben. Dann folgt eine Befragung, um herauszufinden, ob es sinnvoll ist, „für solche Erzählungen in Zukunft verstärkt mit VR zu arbeiten“, wie Eick erläutert: Ein Baustein fürs Museum der Zukunft. Das Projekt läuft seit 1. August, aber weiterhin werden freiwillige Teilnehmer*innen gesucht, die sich die Ausstellung bisher noch nicht angeschaut haben. Mitmachen dauert ungefähr anderthalb Stunden, und im Gegenzug gibt’s einen Tag lang freien Eintritt.

„Kriegsgefangen, Ohnmacht. Sehnsucht. 1914–1921“: bis 30. November, Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven

Proband*innen können sich telefonisch unter 0471/ 90 220-234 anmelden, an der Museumskasse oder online über www.dah-bremerhaven.de/studie

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