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Kaninchen kämpfen für die Freiheit

Einen rasanten Bedeutungswandel haben Kaninchen in den vergangenen zwei Jahrhunderten erfahren: Waren sie zurzeit der industriellen Revolution vor allem Billigfleisch fürs Proletariat, tobten später Männer ihren Gottkomplex an ihnen aus. Heute sind sie vor allem süß und haben Potenzial als Akteure im Kampf der Geschlechter

Kaninchen kuscheln nicht so gerne mit Kindern und lassen sich in den seltensten Fällen streicheln Foto: pxhere/Commons

Von Florian Maier

Leo liegt auf Joy. Sein kleiner Mund berührt ihren Nacken und Rücken. Sie liegt nahezu regungslos auf dem Bauch, auf einer Wiese mit platt getretenen Gänseblümchen. Gleichmäßig und schnell bewegt er seine Hüfte vor und zurück. Nach einigen Sekunden Penetration robbt sie von ihm weg. Er versucht weiter in sie einzudringen. Einige missglückte Versuche später gibt er auf.

Fast 100.000 Klicks hat das Video „Kaninchen beim Rammeln“ auf Youtube. In einem weiteren erklärt der Besitzer der Kaninchen, es sei möglich, dass sein Kanal bald gesperrt wird, da „Kaninchen beim Rammeln“ zu obszön sei. Doch dabei wollen die Menschen genau das sehen. Andere Videos seines Kanals bewegen sich eher im niedrigen zweistelligen Bereich.

Rammeln für politische Zwecke versuchte auch schon die umweltpolitische Gruppe „Fuck for Forest“. Leider blieb das erhoffte Medienecho aus – bis auf einen Dokumentarfilm über die Gruppierung und einige kritisierende Zeitungsartikel. Sie wurden eher belächelt, als dass man ihre politischen Forderungen ernst genommen hätte.

Kaninchen sind ja nicht nur fürs Rammeln bekannt, auch wenn sie in den letzten Jahren immer unbedeutender für die Menschheit wurden. Wo sieht man sie nun, die Rammler und Häsinnen. Geradezu unsichtbar und von der Gesellschaft ignoriert werden Kaninchen. Dabei spielten sie einst eine so große Rolle für den Menschen: kulturell, wissenschaftlich und überlebenstechnisch. Es wird Zeit für eine Bewegung für Rabbit Visibility des wahrscheinlich drittbeliebtesten Haustieres.

In der Literatur konnten sich Kaninchen diesen Platz bereits erkämpfen. Richard Adams’Buch „Unten am Fluss“ beispielsweise erzählt die Geschichte einer Gruppe Kaninchen, die tapfer aus ihrem Stall ausbrechen, Gefahren trotzen, Unterdrücker stürzen, um am Ende in Freiheit und Sicherheit leben zu können. Da nennt man sie noch einmal Hasenherz oder Hasenfuß.

Im Kampf um ihre Sichtbarkeit gehen Kaninchen doch so manchen drastischen Weg. Nicht nur Gott kann die Menschen mit Plagen strafen. So untertunnelten sie beispielsweise 2016 das Stadion der Werder-Bremen-U23-Mannschaft, wodurch eine ganze Tribüne gesperrt wurde, und einige Spiele in anderen Stadien stattfinden mussten. Sie trauen sich durchaus auch in feindliches Gebiet. In Wolfsburg sind sie omnipräsent. Wer vom Bahnhof bis zur Stadthalle gehen will, stolpert geradezu über Kaninchen: Logisch, denn wo macht Protest mehr Sinn als in der Burg des Feindes. Dabei spielten Kaninchen früher durchaus auch eine bedeutende Rolle für den Menschen. Vom Mittelalter bis ins späte zwanzigste Jahrhundert diente das Kaninchen vornehmlich der Fleischerzeugung. Es ist, abgesehen vom Meerschweinchen, das kleinste Nutztier, kann einfach auf Wiesen oder in Käfigen gehalten werden und vermehrt sich schnell. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es oft in Mietskasernen oder Schrebergärten gehalten. Das dort erzeugte Kaninchenfleisch diente der Verbesserung der Proteinversorgung des Industrieproletariats.

Daraus entstanden auch die ersten Kaninchenzuchtvereine in Deutschland. Damals noch mit dem Ziel, die Fleischerzeugung zu verbessern. Dieses Thema spielt heutzutage bei Kaninchenzuchtvereinen kaum noch eine Rolle. Heute dreht sich viel darum, die Tiere reinrassig zu halten. Äußerliche Standards stehen dabei eindeutig im Vordergrund. Lookismus, also die Stereotypisierung auf Grund des Aussehens, macht offensichtlich auch nicht vor der Tierwelt halt. Die inneren Werte, wie zum Beispiel das Fleisch, gehen verloren.

„Es liegt daran, dass Frauen nicht mehr wissen, wie man Kaninchen zubereitet“, sagt Hans-Heinrich Müller, Ehrenvorsitzender des Landesverbandes Hannoverscher Rassekaninchenzüchter e. V. Kaninchen hätten deswegen ihre Bedeutung in der Nahrungsaufnahme des Menschen verloren. Klar gebe es noch Mastanlagen, aber der Bedarf an Kaninchenfleisch sei deutlich zurückgegangen.

Tobias Nöppert, Kaninchenzüchter aus Niedersachsen, erklärt: „Für jede Rasse gibt es einen gewissen Standard. Nach diesem werden auf Schauen dann Punkte vergeben. Es werden das Fell, die Farbe, Krallen, Zähne, Ohren und so weiter kontrolliert.“ Er muss es wissen. Nöppert ist Europameister, Europachampion, war sechsmal deutscher Meister, unzählige Male Landesmeister, Vereinsmeister, Kreismeister. Zudem ist er einer der wenigen jüngeren Menschen im Landesverband.

Junge Menschen bleiben allgemein aus. Das Interesse an Kaninchenzucht sei zurückgegangen, so Nöppert: „Das liegt allgemein daran, dass dieses Hobby nicht wenig Geld kostet. Müller bestätigt den Rückgang und fügt hinzu: „So ein Hobby ist nur noch auf dem Land möglich, nicht mal in Wohngebieten kann man so etwas artgerecht machen.“ Auf die Nachfrage, warum Tobias Nöppert dem Hobby nachgeht, antwortet er, dass es sich in seiner Familie um Tradition handele. Sein Vater und sein Großvater hätten schon Kaninchenzucht betrieben. Sein Großvater habe sogar den Landesverband mitgegründet.

Leider verkommen die Rammler und Häsinnen – so werden, zoologisch falsch, die weiblichen Kaninchen genannt – durch die Zuchtvereine zu Schönheitsobjekten, in denen Männer ihren Gottkomplex ausleben können. Sie werden auf Schauen getragen, dort bewertet, denn sie sind ja so süß. Zur weiteren Demütigung gehört die sogenannte Bauern­olympiade, auf welcher die kleinen Freiheitskämpfer an eine Leine gelegt, einen sogenannten „Kaninhop“ absolvieren müssen. Die eigentlich freiheitsliebenden Tiere werden dabei darauf trainiert, unwürdig über Hürden zu springen. Für domestizierungswillige Tiere wie Hunde mag das kein Problem sein, für Kaninchen bedeuten Situationen wie diese enormen Stress und passen so gar nicht zu der Erzählung von Richard Adams.

Als Haustier hält sich die Bedeutung des Hauskaninchens noch einigermaßen, auch wenn einige Tierpfleger und -schützer behaupten, dass sie sich streicheln lassen, aber Kuscheln gegen die Natur des Kaninchens geht. Franziska Tell vom Bremer Kaninchenschutzverein bestätigt das: „Kaninchen sind nicht einfach zu halten, und vor allem sind sie keine Tiere für Kinder.“ Artgerechte Haltung scheint allgemein ein schwieriges Thema im Bezug auf Kaninchen zu sein. Sofern es kann, bricht es aus und lebt lieber ein Leben als Plage in norddeutschen Städten als in Gefangenschaft. Nicht jeder möchte nur der Pflicht der Bespaßung ungezogener Vorstadtkinder nachkommen.

„Für jede Rasse gibt es einen gewissen Standard. Nach diesem werden auf Schauen dann Punkte vergeben. Es werden das Fell, die Farbe, Krallen, Zähne, Ohren und so weiter kontrolliert“

Tobias Nöppert, Kaninchenzüchter aus Niedersachsen, Europameister, Europachampion, sechsfacher deutscher Meister, unzählige Male niedersächsischer Landesmeister

Kaninchenschutz könnte sich allerdings zum Trend entwickeln. Im Gegensatz zu den Zuchtvereinen gibt es da tatsächlich junge Menschen. In US-amerikanischen Medien ist Kaninchenrettung allerdings schon länger ein prominentes Thema. Bereits 2010 rettete die Hotelbesitzertochter Paris Hilton 20 Kaninchen, die eigentlich an Schlangen hätten verfüttert werden sollen. Sie bot ihnen Schutz in ihrem Garten hinter ihrem Haus, natürlich nicht, ohne vorher ein Foto auf Twitter zu teilen.

Dabei könnte das Kaninchen eine große Rolle im Kampf der Geschlechter spielen. Im Kaninchenschutzverein engagieren sich überwiegend Frauen. Auf den Internetseiten der Kaninchenzuchtvereine blicken hauptsächlich ältere Männer verstohlen in die Kamera. Nöppert bestätigt das: „In unserem Verein sind hauptsächlich Männer. Manchmal ist noch die Ehefrau auf eine Rasse angemeldet. Meine Frau hatte, bevor sie mit mir zusammengekommen ist, auch nichts mit Kaninchen zu tun. Jetzt kümmert sie sich auch um die Tiere.“ An sich sei das Thema Kaninchenzucht nicht ganz unattraktiv für Frauen.

Gerade hier zeigt sich der Kampf der Geschlechter in Rein-form: In der rechten Ecke die Männer, bei denen die Reproduktion im Vordergrund steht. Aussehen spielt dabei die größte Rolle. Man will ja einen Titel holen. In der linken Ecke die Frauen, die auf den Schutz und das artgerechte Leben pochen. Wirre Rammler gegen schützende Häsinnen. Am Ende sind wir doch alle Leo und Joy aus dem Youtube-Video. Diese Analogie fand auch in der Literatur schon Anklang.

John Updike zeichnete in seiner fünfteiligen Rabbit-Romanreihe genau dieses Bild: der Mensch als Kaninchen. Auch hier ist der Hauptcharakter ein suchender Rammler, nur als Mensch im US-Amerika der 50er-Jahre. Geplagt von Entscheidungsschwierigkeiten, aber zeugungswütig. Seine Frau ist zurückgezogen, auf Schutz bedacht, geht kaputt an seinen Eskapaden.

Doch sollten gerade Menschen mit diesem Vorwissen eigentlich schon über diesen Punkt hinaus sein. Alle Kämpfe der Geschlechter befinden sich schon deutlich weiter als in diesem biologistischen Bild. Kaninchen haben zwar noch keine Judith Butler oder Simone de Beauvoir, aber wenigstens den Kampf um ihre eigene Sichtbarkeit kann man die vermeintlichen Hasenfüße selbst kämpfen lassen. Denn sie sind ja so süß.

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