hörbuch: Wie erhebend es ist, Walt Whitmans Stimme zu hören
Dichtung ist eine Komposition von Wörtern, die in Musik gesetzt sind“, hat der amerikanische Dichter Ezra Pound gesagt. Wenn sich Schönheit und tieferer Sinn von Musik beim Hören erschließen, gilt das Gleiche also für Dichtung. Nun kann Lyrik (wie alle anderen Textsorten selbstverständlich auch) im Vortrag „ermordet“ werden, von „Fremdvortragenden“ oder vom Autor höchstpersönlich. Auch das war Ezra Pound bewusst: „Die Schrecken der heutigen ‚Dichterlesungen‘ sind dem rhetorischen Vortrag geschuldet.“
Dass es dennoch bereichernd ist, ein Gedicht von seinem Schöpfer vorgetragen zu hören, beweist die „The Poets’ Collection“, für deren Zusammenstellung Michael Krüger, ehemaliger Hanser-Verleger, Autor und Übersetzer, und die Lektorin Christiane Collorio mehrere Jahre in Sammlungen und Archiven recherchiert haben und auf der sie 94 Lyrikerinnen und Lyriker der englischsprachigen Welt zu Wort kommen lassen, unter anderem Rudyard Kipling, Dylan Thomas, John Burnside, James Joyce, Samuel Beckett, Dorothy Parker, Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Michael Ondaatje.
Eingang in diese Anthologie fanden nur Lyriker*innen, deren Gedichtvorträge auf Tonband existieren. Dabei dienen die frühesten Aufnahmen von Alfred Lord Tennyson oder Robert Browning eher als historische Dokumente, denn die Tonqualität der über 120 Jahre alten Aufnahmen vermittelt eher eine Idee der Gedichte, als dass sich Schönheit und tieferer Sinn ad hoc erschließen. Die vermitteln die deutschen Übersetzungen, die auf jedes Gedicht folgen. Bereits bestehende Übersetzungen lesen Schauspieler*innen wie Katja Bürkle, Axel Milberg und Hanns Zischler. Andere Gedichte wurden eigens neu ins Deutsche übertragen, viele davon rezitieren ihre Übersetzer*innen. Was ein geschickter Schachzug ist, denn den Lesungen der Übersetzer*innen Mirko Bonné, Hans-Christian Oeser und Ulrike Draesner ist anzuhören, dass sie sich die englischen Originale auf Deutsch zu eigen gemacht haben.
Auch wenn er kaum zu verstehen ist, ist es doch erhebend, die Stimme Walt Whitmans zu hören, wenn er ein paar Zeilen aus „America“ vorträgt, obwohl sich die (vermutlich von Thomas Alva Edison 1889 oder 1890 gemachte) Aufnahme anhört, als säße Whitman auf einer Dampflok. Und schwingt bei der Aufnahme von W. B. Yeats noch stark die Ehrfurcht vor der neuen Technik mit – sein kehliger Singsang der Lesung seines Gedichts „The Song of the Old Mother“ steht in starkem Kontrast zu Bibiana Beglaus nüchterner Interpretation –, ist der Umgang Gertrude Steins mit den Möglichkeiten der Aufnahme wenige Jahre später schon ganz anders: Abgeklärt rezitiert sie sich bei „If I Told Him: A Completed Portrait of Picasso“ in einen Wortwiederholungsrausch.
Dass Krüger und Collorio strikt chronologisch nach Geburtsjahren vorgehen und die Dichter*innen nicht nach Strömungen oder Schulen einordnen, irritiert zunächst – im fast 180 Seiten starken Booklet weisen sie in alphabetisch verzeichneten Kurzbiografien auf stilistische und sprachliche Ausrichtung hin –, ist aber auf den zweiten Blick befreiend. Der Vergleich, etwa wie die unterschiedlichen Nationalitäten und Geschlechter sich zur selben Zeit mit denselben Themen (etwa dem Zweiten Weltkrieg) auseinandergesetzt haben, ermöglicht den globalen Blick auf nationale Sichtweisen.
Zudem stellt die wertfreie Aneinanderreihung der Lyriker*innen tatsächlich die Musikalität in den Vordergrund, den Klang der Stimmen, die Dialekte und Akzente, die, obwohl alle Englisch, vielfältiger kaum sein könnten. Sylvia Prahl
Christiane Collorio und Michael Krüger(Hg.), „The Poets‘ Collection“. 13 CDs, Laufzeit ca. 14 Stunden, Der Hörverlag, 2013–2018.
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