: Sprünge in unbekannte Gegenden
Familienerinnerungen weiten sich zum Geschichtspanorama: Mit Gespür für Ungerechtigkeit erzählt Inger-Maria Mahlke von Großbürgern, Handwerkern und Dienstboten am Rande Europas
Von Eva Behrendt
Das Material für einen saftigen, prallen Roman über die hundertjährige Geschichte einer kanarischen Familie hätte Inger-Maria Mahlke zweifellos zur Verfügung gestanden. Tatsächlich breitet sie ihre Figurenschätze auf den rund 400 Seiten ihres vierten, auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis gelisteten Romans „Archipel“ ja auch aus: der großbürgerlich-kolonialistische Zweig, Militärs und Unternehmer, die bis in die Gegenwart Grund und Kapital besitzen, die kleinbürgerlichen Handwerker, deren Männer mit dem Faschismus liebäugelten, und die Dienstboten, Leibeigene fast und in der Regel Frauen, die teilweise noch im Jahr 2015 über keinen ordentlichen Mietvertrag verfügen. Doch wie sich diese Familien durch Arbeit und Liebe, Sex und Politik durch die Jahrzehnte berühren und verstricken, davon erzählt die 1977 geborene Autorin, die selbst teilweise auf Teneriffa aufwuchs, auf höchst herausfordernde Weise.
Es beginnt mit der Umkehrung der Chronologie. Der Roman beginnt 2015 und endet 1919. Zunächst entwirft Inger-Maria Mahlke ein breites Panorama von Inselschauplätzen und Figuren, aus denen sich nach und nach die konservative Politikerin Ana Baute, ihr Mann, der Historiker Felipe Gonzales, der sich als Privatier gediegen durch den Tag trinkt, und die gemeinsame Tochter Rosa, Kunststudentin in Madrid, herausschälen. Außerdem Anas greiser Vater Julio, der im Altersheim (Asilo) als Portier arbeitet, und die Haushaltshilfe Eulalia, das organisatorische Rückgrat der Familie Baute-Gonzales.
Inger-Maria Mahlke wählt dabei nie die Vogelperspektive, sondern konfrontiert ihre Leser mit immer neuen Situationen, in denen sie sich erst – auf Augenhöhe mit den handelnden Figuren, aber auch wie ausgesetzt in einem unbekannten Leben – orientieren lernen müssen. Wo bin ich, wer sind die Personen, warum diese Details?, fragt man sich oft, bevor die Informationen in pipettenfeinen Dosen hereintropfen und eine Szene an Kontur und Sinn gewinnt. Auch Gefühle und Reflexionen der Protagonisten schildert Mahlke kaum, beschreibt eher deren konkretes Verhalten oder ihre Wahrnehmung der Umgebung. Langsam erschließen sich Stimmungen, etwa wenn Julio in seiner Portiersloge zwischen dem Flirt mit der dementen neuen Insassin und der geliebte Tour-de-France-Übertragung hin- und hergerissen ist. Kaum hat man eine Situation erfasst, springt der Text in die nächste unbekannte Gegend: ohne Pointe, ohne Cliffhanger.
Inger-Maria Mahlke: „Archipel“. Rowohlt, Reinbek 2018. 432 Seiten, 20 Euro
Dieses erzählerische Verfahren erinnert an das Drehbuch eines kunstvoll geschnittenen Films; Mahlke spiegelt es einmal sogar im Kleinen, als sie Rosa bei einer Art „Dschungelcamp“ über die Schulter aufs Tablet schaut, natürlich ohne zwischen Bild- und Realitätsbeschreibung zu unterscheiden: „Umschnitt auf den Nachthimmel, Zeitraffer, wimmelnder Wolkenschatten, wandernde Lichtpunkte, langsam verblassend. Umschnitt auf die Bucht, Flut frisst Felsen, Himmel rosa, Sonnenball hebt sich, voilà, Tag. Ganz mühelos.“ Reihend, aufzählend, ist Mahlkes Stil auch an anderen Stellen häufig. Doch immer wieder staut die Autorin den Erzählfluss. Wie Beschwörungsformeln an den Satzanfang gerückte Worte, deren Bedeutung für den folgenden Text sich erst später klärt, zwingen zum Innehalten, Zurückblättern, nochmals Lesen.
Das macht die Lektüre vor allem im ersten Drittel, das in den zehner und nuller Jahren des 21. Jahrhunderts spielt, stockend und strapaziös. Scheut die Autorin nicht zu ambitioniert jede erzählerische Konvention? Doch dann werden die Zeitsprünge größer, die Leserin vielleicht auch geübter im Pfadefinden durch das Erzählgestrüpp. Man beginnt sich zu freuen an ihrer Liebe zu allem, was den Alltag der Figuren prägt – ob es das Bleichen der Wäsche ist, ausgefeilte Prügelbestrafungsmethoden von Nonnen oder komplexe Drinkmixturen in den mondänen Zwanzigern.
Immer deutlicher wird zudem, dass das Rückwärtserzählen bei Inger-Maria Mahlke weniger auf Enthüllungseffekte spekuliert, sondern eher auf die kunstvolle Nachbildung und Überformung von Erinnerungsstrukturen zielt. Während die Beschreibungsmöglichkeiten der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit aus allen Nähten quellen, auch das Leben der Eltern noch vertraut ist, lichtet sich in der Großelterngeneration das Wissen langsam, wird stärker von historischen Eckdaten geprägt. Darüber hinaus erzählt Mahlke bewusst aus diversen Perspektiven, ein angehängtes Verzeichnis listet 17 „handelnde Personen“ auf: keine Geschichtsschreibung von oben, sondern von allen Seiten, mit untrüglichem Gespür für soziale Ungerechtigkeit.
So formt sich aus scheinbar willkürlich und doch wohl komponierten Elementen ein Geschichtspanorama des südwestlichsten Außenpostens Europas.
Obwohl Mahlke ihrem erzählerischen Verfahren der Momentaufnahmen treu bleibt, reichert sich immer mehr Historie darin an, manchmal boshaft zu Nebensätzen verzwergt: „Unser Franco? Dieses Männchen?“, fragt Felipes Großmutter Ada nur, als sie vom Putsch 1936 erfährt. Auch die spanische Kolonialgeschichte auf dem afrikanischen Festland, der Handel mit Engländern und Deutschen, die faschistische Episode des Falangismus, der drohende Rückfall in die Diktatur 1981 – all das streift die Leben der später Toten mit eleganter Beiläufigkeit oder schmerzlicher Intensität.
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