: Themen törnen ab
Schön überzeichnet: Michel Decars 80er-Jahre-Krimi „Tausend deutsche Diskotheken“
Michel Decar: „Tausend deutsche Diskotheken“. Ullstein Verlag, Berlin 2018, 240 Seiten, 20 Euro
von Jens Uthoff
Das Aquarius, das Oly und das Crash in München. Das Roxy, das Boa, die Goldene Kanone in Stuttgart. Das Candy, das Downtown, der Central Park im „abartigen Frankfurt am Main“. Und viele weitere. Privatdetektiv Frankie und sein Gehilfe, Jens Wetterstein, suchen die halbe BRD ab, um diese eine Diskothek zu finden, in der am 9. Juli 1988, später Samstagabend, „White Heat“ von Madonna gespielt wurde. Aber die meisten Discjockeys des Landes zucken nur mit den Achseln. „Like a Virgin“ oder „Papa Don’t Preach“, klar, das werde gespielt, aber das eher unbekannte „White Heat“?
Die Jagd auf die „White Heat“-Disco ist der Ausgangspunkt in Michel Decars Roman „Tausend deutsche Diskotheken“, und das aus einem ganz einfachen Grund: Bahnvorstand Mauke hat Privatdetektiv Frankie angeheuert – er werde erpresst; es gehe um vertrauliche Unternehmensinformationen. Ein Unbekannter habe ihn samstagnachts angerufen, der Anruf sei aus einer Bar oder Diskothek gekommen. Die einzige Information: Im Hintergrund lief „White Heat“ von Madonna.
Von hier aus nimmt eine (West-)Deutschlandreise seinen Beginn, die Frankie und Gehilfe Wetterstein, ein Philosophiestudent im 21. oder 22. Semester, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, unternehmen, oft der Intuition des Privatdetektivs folgend. Sie führt sie durchs Schwabenland („Stuttgart war keine Stadt für große Gefühle, für überhaupt keine Gefühle“), durch den „Mainz-Wiesbaden-Komplex“ („wir beide spürten, dass es in der Luft lag“) bis nach Düsseldorf („außerhalb des Ratinger Hofs existierte Düsseldorf für mich lange Zeit nicht“) und ins Ruhrgebiet.
Diesen Trip bekommt man aus Frankies Perspektive in einem Verhör mit einem gewissen Courcelles geschildert, dem er in aller Ausführlichkeit – Bettgeschichten und ausufernde innere Monologe inklusive – Bericht erstattet (einmal finden Geschlechtsverkehr und Gedankenstrom dabei kongenial zusammen, ein Höhepunkt des Buchs sozusagen).
Mit seinem Romandebüt legt Decar, der bislang vor allem als Dramatiker in München und Berlin in Erscheinung getreten ist, einen schön überzeichneten Krimi vor, der zugleich ein Gesellschaftsporträt ist. Denn in „Tausend deutsche Diskotheken“ entsteht, wie man so sagt, ein Panorama des 80er-Jahre-Westdeutschland – der Begriff „Panorama“ trifft es hier aber wirklich, denn das Jahrzehnt erwacht in all seiner wunderbaren Verschrobenheit, seiner Lächerlichkeit, seinem Glanz. Decar trifft – obgleich Jahrgang 1987 – den Sound, den Humor, den Sex dieser Zeit punktgenau, er skizziert zudem einen gesellschaftlich-politischen Raum, in dem noch viel mehr gedeckelt war als heute.
Die Figurenzeichnung ist toll, da wird man an große Romane wie „Herr Lehmann“ erinnert, das ja in etwa zur gleichen Zeit spielt. Zum Beispiel, wenn Frankie von seiner Affäre Marlene Mintrop erzählt: „Marlene stand total auf Standpunkte. (…) Und noch viel schlimmer: Themen. Dabei sind Themen wirklich das Allerletzte. So weit ich denken kann, habe ich versucht, Themen zu vermeiden (…)“ Oder von – andere Geliebte, noch ein 80er-Name – Conny Breule: „Aber diese ganze Politik interessiert mich nicht, sagte ich zu Conny, diese ganzen Rechten und Linken interessieren mich einfach nicht.“ Ein gewichtiger Unterschied zu Sven Regeners Romanen wäre aber, dass dieser Frankie ein ziemlicher Aufschneider- und Hochstaplertyp ist, ein mehr und mehr unzuverlässiger Ich-Erzähler mit Marlboro-Menthol-Sucht und ausgeprägter Max-Frisch-Abneigung.
Auch die Sprache der Zeit trifft Decar gut, da ist „alles easy“, da hält man Ausschau nach einer „Braut“, da sieht Conny Breule „grande aus“, Frankie „schmettert sich ein paar Bacardis rein“, bevor die Sache mit Bahnvorstand Mauke so langsam zum „Abtörn“ wird. Die Story weitet sich derweil, so glaubt Frankie zu erkennen, nicht nur zu einem großen Skandal in der Führungsebene der Deutschen Bundesbahn aus, sondern könnte nichts weniger als das Ende der BRD bedeuten.
Die Paranoia und die Politfragen, das Gel und der Größenwahn, die eckigen Automobile und der anfällige Machtapparat jener Zeit: All das steckt in diesen knapp 240 Seiten. Kurz: Alles andere als ein Abtörn, dieses Buch.
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